Europas letzter Sommer

Die Julikrise 1914

BR-alpha, 30.06.2012, 20:15–21:45 Uhr (TV-Dokumentarspiel)

Szene aus der TV-Produktion: das Attentat in Sarajevo

In dem vom Bildungskanal des Bayerischen Fernsehens, BR-alpha, ausgestrahlten TV-Dokumentarspiel wird der Anschein einer lückenlosen, detailgetreuen, streng chronologischen Dokumentation der sogenannten Julikrise 1914, also der Zeitspanne von der Ermordung Franz Ferdinands in Sarajewo bis zum Ausbruch der Feindseligkeiten am 1.8.1914, erzeugt.

Leider ist dieses TV-Dokuspiel einseitig, tendenziös und unvollständig.
Die Hauptkritikpunkte daran sind:

  1. Der Fokus der nachgespielten Handlung liegt ausschließlich auf den Handlungen der zivilen und militärischen Entscheidungsträger (und der Monarchen) in Wien und Berlin. Die Interessen und Motive der anderen Großmächte Großbritanniens, Frankreichs und vor allem Rußlands werden nicht berücksichtigt. Damit entsteht der falsche Eindruck, der Erste Weltkrieg sei eine Sache gewesen, die ausschließlich Deutschland und Österreich-Ungarn entschieden, und die anderen Mächte hätten lediglich reagiert.
  2. Selbst wenn eine schwerpunktmäßige Ausleuchtung der Hintergründe der deutschen und K.u.k. Diplomaten, Politiker und Militärs dargestellt werden soll, darf keinesfalls die serbische und russische Perspektive fehlen. Die spiegelbildliche Lage in St. Petersburg stellte sich beispielsweise wie folgt dar: Zar Nikolaus II. (kriegsscheu und zögerlich wie sein Cousin Wilhelm II.), der russische Außenminister Sasonov, der Chef des russischen Generalstabes Wladimir Suchomlinow (kriegsbereit) und Regierungschef Wladimir Kokowzow (kriegsscheu – und während der Krise entlassen!). Auf die dortigen Konflikte und Standpunkte zwischen der zivilen und militärischen Entscheidungsebene geht die Dokumentation nicht ein; damit wird die russische Mitverantwortung am Kriegsausbruch von vornherein heruntergespielt. Dies ist – auch in den Augen vieler Historiker – nicht haltbar.
  3. In der TV-Produktion wird der Eindruck erzeugt, die österreichischen Forderungen an Serbien seien extrem überzogen gewesen und die serbische Antwort überaus großzügig zu bewerten (dies sehen Historiker durchaus auch anders – siehe Christopher Clark). Ebenfalls ist die Meinung der deutschen Regierung (Reichskanzler Bethmann-Hollweg), daß Rußland wahrscheinlich in einem lokal begrenzten Krieg Serbien versus Österreich nicht eingreifen werde, keineswegs eine Wahnvorstellung, wie im Film der Anschein erweckt wird. Das Verhalten Rußlands in den vorausgegangenen Balkankonflikten sowie der noch nicht ausreichende Rüstungsstand der russischen Armee lassen diesen Standpunkt durchaus realistisch (wenn auch letztendlich unzutreffend) erscheinen.
  4. Die Rolle Wilhelms II., der immer gegen einen deutschen Präventivkrieg war und seine Reaktion auf die serbische Antwort vom 25.7.1914. Der deutsche Kaiser wollte diese Antwort als Grundlage einer diplomatischen Vermittlung zwischen Wien und St. Petersburg benutzen. Wilhelm II. stellte sich während der Julikrise – weit mehr als Zar Nikolaus II. und Kaiser Franz Joseph – gegen die militärische Führung (Moltke und Falkenhayn), z.B. bei der Rücknahme der Mobilmachung gegen Frankreich. Dies zeigt die Sendung von BR-alpha nicht genügend deutlich bzw. stellt es nicht in den richtigen – nämlich bedeutungsvollen – Zusammenhang.