Lüder Meyer-Arndt

Die Julikrise 1914

Wie Deutschland in den Ersten Weltkrieg stolperte

Böhlau-Verlag 2006 407 Seiten 24,90 €

Die Julikrise 1914

Der Erste Weltkrieg war bekanntlich die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. Alle anderen Großereignisse wie z.B. der Niedergang Europas, der Aufstieg der USA und das Entstehen der bolschewistischen Sowjetunion waren direkt oder indirekt eine Folge dieses Konfliktes.

Die fatalistische Ansicht, daß dieser Waffengang unumgänglich gewesen sei und irgendwann aufgrund des einen oder anderen nichtigen Anlasses sowieso ausgebrochen wäre, ist unter Historikern der Gegenwart so verbreitet wie sie es unter den Zeitgenossen war, die die Vorgeschichte des „Großen Krieges“ durchlebten.

Der promovierte Jurist Lüder Meyer-Arndt ist anderer Meinung: Der Krieg hätte durch eine maßvoll-weitsichtige Politik vor allem auf Seiten der Mittelmächte verhindert werden können. Gefangen von einer irrationalen, den Umständen der Zeit nicht mehr entsprechenden Bündnistreue zum schwächelnden Bündnispartner Österreich (Zweibundpartner seit 1879), habe eine dilettantisch agierende, kopflose politische Führungskaste aus Angst vor der völligen Isolation eine Risikostrategie gesteuert und sei ohne Not „in den Krieg gestolpert“.

Obwohl der Autor das ambivalente Verhalten des Kaisers negativ bewertet, kann der Leser vielfach erkennen, daß Wilhelm II. im Verlauf der Krise zuweilen mehr außenpolitischen Instinkt bewies als seine Berater; leider ließ er sich aber aber immer wieder von letzteren zu ihm widersprechenden Maßnahmen verleiten. Es fehlte dem Monarch an der notwendigen Willenskraft und Standhaftigkeit, seine Anschauungen mit Nachdruck durchzusetzen und dem politischen Chaos-Management eine konstruktive Richtung zu geben. Der Kaiser vertraute zu sehr auf seine dynastischen Verbindungen, vor allem zum russischen Zaren und nach Großbritannien – die Entscheidungen über Krieg und Frieden aber lag bei allen Mächten in den Händen der Berufspolitiker.

Als der Monarch das ganze Ausmaß der Gefahr erkannte, war es (nach dem damaligen Verständnis) zu spät, auf dem eingeschlagenen Weg umzukehren. Als Wilhelm II. mit Tränen in den Augen die Kriegserklärung an Rußland unterzeichnete, sagte er prophetisch zu Reichskanzler Bethmann Hollweg und Kriegsminister Falkenhayn: „Sie werden es erleben, daß Sie den Tag verwünschen, an dem Sie mich dies haben tun lassen!“

Der Erste Weltkrieg begann als 'Dritter Balkankrieg'Interessanterweise sieht Meyer-Arndt (entgegen einer weit verbreiteten Deutung) nicht Deutschland, sondern das verbündete Österreich-Ungarn als das aktive Element jener schicksalhaften Wochen:

Die deutsche Führung habe am Anfang (Zusage der Rückendeckung am 5. Juli durch den Kaiser) die Initiative leichtfertig aus der Hand gegeben und Wien einen gefährlichen, weil Rußland provozierenden Kurs fahren lassen. In Berlin habe man  man nur noch reagieren können und das tat man meist widersprüchlich, unüberlegt und kurzsichtig. Meyer-Arndts akribische Studie ist durchzogen von Belegen für die unkoordinierte und konzeptlose Verhalten der damaligen Außenpolitik, die jede klare Strategie vermissen ließ:

Theobald von Bethmann Hollweg, Reichskanzler
1909-1917

Reichskanzler Bethmann Hollweg (1856-1921) meist passiv, „zögernd und schwankend“, von der Bedeutung der eigenen Person durchdrungen, aber mit nur geringer Autorität bei seiner eigenen Regierung. Die militärische Führung mit Moltke (Generalstab) und Falkenhayn (Kriegsministerium) – der eigenen Unterlegenheit bewußt –, riet bis zur russischen Mobilmachung am 31.7. von einem Waffengang ab. Der Kaiser wußte, daß er zum Feldherrn nicht taugte und schreckte ebenfalls vor einem Krieg zurück. Überhaupt zeugt schon die Tatsache, daß alle deutschen Entscheidungsträger (Moltke, Wilhelm II., Bethmann) zu Beginn der Krise sich allesamt in den Urlaub begaben (!), kaum von dem oft kolportierten „Drängeln auf Krieg“.

Laut Meyer-Arndt nutzte eine intrigante Clique von Falken, allen voran der ungeschickt agierende Staatsekretär des Auswärtigen Amtes, Gottlieb von Jagow („ein Diplomat dritten Ranges“) und der Botschafter des Reiches in Wien, von Tschirschky, das vorhandene Machtvakuum in der deutschen Führung zu einer verhängnisvollen Parallel- bzw. „Privatpolitik“ in Kumpanei mit der Kriegspartei in Wien um den Graf Bertchold (Außenminister) und Conrad von Hoetzdendorf (Generalstab), die unbedingt an Serbien ein Exempel statuieren wollten, um Österreichs Reputation als Großmacht zu restituieren.
Als sie sahen, daß ihr Ziel eines begrenzten Krieges (nur gegen Serbien bzw. gegen das Zarenreich) nicht aufging und der fatale Mechanismus der Mobilmachungen und Bündnisse sich verselbständigte, waren sie nicht imstande, „zurückzurudern.“ Die Tragödie nahm ihren Lauf.

Fazit

Dem Autor gebührt das Verdienst, die unmittelbare Vorgeschichte des Ersten Krieges akribisch untersucht zu haben. Die detailgenaue, geradezu minutiöse Schilderung der Julikrise liest sich stellenweise spannend wie ein Krimi.

Problematisch ist die einseitige Ausrichtung des Themas mit dem Fokus auf Deutschland bzw. Österreich-Ungarn. Die Motive Frankreichs, Rußlands und Großbritanniens, die ebenfalls eine gehörige Mitverantwortung am Ausbruch der „Urkatastrophe“ trugen, kommen etwas zu kurz. Die Einordnung der Geschehnisse in einen größeren Zusammenhang fällt sehr knapp aus.

Trotzdem ist dieses gut recherchierte Buch gewinnbringende Lektüre für jeden, der genau wissen will, „was im 20. Jahrhundert schief lief“ (Niall Ferguson), auch wenn man dem Autor nicht bei all seinen Interpretationen folgen mag.

Weitere Buchempfehlung zum Ersten Weltkrieg
Prof. Dr. Niall Ferguson (geb. 1960)

Wer sich allumfassend über den Ersten Weltkrieg informieren will, kommt an dem im Jahre 1999 erschienenen Band „Der falsche Krieg“ („The Pity of War“) des britischen Historikers und Harvard-Professors Niall Ferguson nicht vorbei.
Die FAZ urteilte:
„Beste kontrafaktische Historiographie führte Ferguson in seinem dritten Buch vor […] Er rekonstruierte die politische Diskussion in England vor 1914 und wies nach, dass das englische Kabinett sich mehrheitlich gegen einen Kriegseintritt ausgesprochen hatte. Hätte sich diese Ansicht durchgesetzt, dann hätte Deutschland einen Kontinentalkrieg gegen Frankreich und Russland wohl gewonnen. Das Kaiserreich hätte überdauert, die Weimarer Republik und die NS-Diktatur hätte es nicht gegeben, demokratische Strukturen hätten sich allmählich entwickelt.
Fergusons Buch wurde besonders in Deutschland heftig angegriffen. Offenbar war, wie Ferguson vermutet, den Deutschen der Gedanke an einen deutschen Sieg 1915 oder 1916 höchst unangenehm.“
(FAZ, 20.06.2007)