Kaiserbesuch 1889

Wilhelm II. zu Gast bei Sultan Abdülhamid II. Han

Die Beziehungen, die schon lange zwischen Deutschland und dem Osmanischen Reich auf militärischer und wirtschaftlicher Ebene bestanden, wurden durch den Besuch Wilhelms II. Ende Oktober 1889 intensiviert. Anläßlich des Kaiserbesuches wurde Konstantinopel in eine Großbaustelle verwandelt: Es wurden neue Straßen gepflastert, Mauerrisse ausgebessert und zerfallende Ruinen mit Gips und weißer Farbe übertüncht, denn der Sultan empfing nicht alle Tage den Besuch eines gekrönten Bruders.Hereke Die Visite war umso schmeichelhafter, als der junge Kaiser Wilhelm noch kaum ein Jahr regierte und Bismarcks Mißbilligung zum Trotz auf dieser Reise bestanden hatte. Der Sultan ließ anläßlich des Besuches den Merasim Köşk im großen Yildiz-Park erbauen, mehr Palast als Pavillon. Der Merasim Köşk umfaßt einen Bankettsaal, in dem 120 Gäste Platz finden. Sultan Abdülhamid hatte persönlich jede Einzelheit der Ausstattung überwacht, ja sogar höchstselbst einige der exquisiten Schnitzereien beigesteuert, die Türen und Täfelungen schmückten. Der Sultan, ein gelernter Schreiner, ließ es sich nicht nehmen, den jungen Kaiser mit seinem handwerklichen Können zu imponieren, als er von dessen Schwärmerei für Kunst erfuhr. Mit seinem phänomenalen Gedächtnis erinnerte sich der Sultan an sämtliche Speisen, die er als Prinz während der Europareise seines Onkels Abdülaziz in den Tuilerien und im Buckingham Palast eingenommen hatte. Der französische Küchenchef, der eigens nach Konstantinopel geholt worden war, hatte Weisung erhalten, „Windsorsuppe“ in seine Menüs aufzunehmen, als Kompliment für die Großmutter des Kaisers, Queen Victoria. Außerdem veranlaßte der Sultan den Besuch als „Festtag“ zu behandeln, mit Straßenilluminierung und einem Feuerwerk auf dem Bosporus.

Das Osmanische Reich und die deutsche Wirtschaft

Was nach außen wie ein völlig spontaner Entschluß aussah, war in Wahrheit das Ergebnis jahrelanger, sorgfältiger Vorbereitungen durch den deutschen Botschafter, Graf von Hatzfeldt, der während der Ägypten-Krise erkannte, daß England die traditionelle Rolle, die es seit Stratford Cannings Zeiten in Konstantinopel gespielt, aufgegeben hatte, und allein Deutschland in der Lage war, seinen Platz zu übernehmen. Hauptziel war, deutschen Waren einen Markt zu sichern und im Nahen Osten eine deutsche Einflußsphäre zu schaffen. Brauchte der Sultan Ärzte zur Bekämpfung der Epidemien, die sein Reich heimsuchten, brauchte er Ingenieure für den Bau von Eisenbahnen oder Techniker, die seine Gruben leiten sollten, Deutschland war stets bereit, sie ihm zur Verfügung zu stellen. Seinen größten Sieg errang der deutsche Botschafter mit der Entsendung des Generals von der Goltz, der für die Ausbildung und Ausrüstung der osmanischen Armee zu Rate gezogen wurde. So kam ein ganzes Heer deutscher Handelsreisender ins Osmanische Reich, und von Saloniki bis Bagdad fanden sich im jeden Haushalt Gegenstände „Made in Germany.“ Selbst der argwöhnischste der Sultane, Abdülhamid II., konnte gegenüber diesen schweigsamen und tüchtigen Technikern, die so bereit schienen seinem Land zu helfen und so wenig dafür verlangten, nichts anderes als Dankbarkeit empfinden. Das finanzielle Chaos nach dem Krieg mit Rußland (1877/78) hatte den Sultan gelehrt, daß sein Land ohne die Hilfe Europas verloren war. Auf Vorschlag seines Ersten Sekretärs, Said Paşa, gründete Abdülhamid die „Administration de la Dette Publique Ottomane“ (dt. „Verwaltungsrat für osmanische Staatsschulden“), welche aus englischen, deutschen, französischen und österreichischen Finanzexperten bestand. Das Kaiserliche Schatzamt verzeichnete ein so großes Steuereinkommen, daß zwei Drittel dem osmanischen Staatsschatz zuflossen. Durch diese Glanzleistung faßten die ausländischen Gläubiger wieder Vertrauen, und die Invasion deutscher Geschäftsleute ins Osmanische Reich führte zu einer neuen Wirtschaftsblüte.

Der Kaiser kommt!

Am 2. November 1889 erwachte Konstantinopel vom Donner der Kanonen, die die Einfahrt Wilhelms II. ins Marmarameer verkündeten. Gegen Mittag erreichte die kaiserliche Yacht „Hohenzollern“ die Saray-Spitze, es war ein sonniger Herbsttag. Unter dem Schall der Kanonen und dem Heulen der Schiffssirenen fuhr der deutsche Herrscher in den Bosporus ein. Die Marmorpaläste, die weißen Yachten im Hafen von Galata und jenseits des Bosporus die Kuppeln und Minarette von Üsküdar lagen im hellen Sonnenschein. Durch eine Lichterkette verbunden, vereinten Europa und Asien sich zum Willkommensgruß. Musikkapellen spielten auf, tausend Soldaten, die die Ufer säumten, präsentierten das Gewehr, und an allen öffentlichen Gebäuden wehten die osmanischen Fahnen mit Halbmond und Stern, stolz neben dem deutschen Adler. Am Pier des Dolmabahçe Sarays wartend, stand der Sultan mit seinem Großwesir Kamil Paşa. Aus den Memoiren des Großwesirs wissen wir, daß Abdülhamid zu diesem Zeitpunkt sehr angespannt war, sich zum einen auf den Besuch freute, sich jedoch eine andere Seite seines Wesens dagegen sträubte. Der Sultan gedachte voller Sehnsucht vergangener Zeiten, da sein Ahnherr Sultan Süleyman Europa zurufen konnte: „Da ist ein Mann namens Karl, der sich Kaiser nennt. Weiß er nicht, daß ich Kaiser bin und daß es nur einen Kaiser auf Erden gibt, so wie es nur einen Gott gibt, der Allah heißt?“ Der Entschluß, seinen Gast als einen europäischen Herrscher zu empfangen, hatte den Sultan manch schlaflose Nacht gekostet. Die Angst vor einer negativen Reaktion der orthodoxen Muslime und des Scheich-ül Islams, wenn der Sultan die Hand der Kaiserin küssen und er neben dem Kaiserpaar stehen würde, machten ihm große Sorgen. Aber diese Zweifel verschwanden in jenem Augenblick, als der Kaiser Land betrat. Das Auftreten des Kaisers, welcher Jugend und Kraft verkörperte, wurde auch vom Sultan mit großer Bewunderung aufgenommen. Der herzhafte Händedruck des jungen Kaisers drückte Selbstsicherheit aus, und erst spät erkannte der Sultan, daß der eiserne Griff nur von einem gelähmten linken Arm ablenken sollte. „Von Anfang an zeigte Seine Majestät große Sympathie für den deutschen Kaiser“, so der Großwesir. Doch war die Würde, die beide Monarchen trugen, nicht das bindende Glied dieser Beziehung, sondern die harte und unbarmherzige Jugend, die beide als Prinzen durchleben mußten.

Das deutsche Herrschaftspaar seinerseits war vom Gastgeber entzückt. Aber niemand hätte die Artigkeit, die Feinheit der Manieren übertreffen können, mit der der Sultan sich vor der Kaiserin verbeugte und ihr die Hand küßte, bevor er sie zu der Staatskarosse führte. Soldaten und Bürger jubelten und riefen „Padişahım çok yaşa!“ (dt. „Es lebe der Padischah!“), die Bevölkerung war außer sich vor Freude. Als der Sultan mit dem Kaiserpaar zum Yildiz Palast fahren will, äußert sich Wilhelm über die osmanischen Truppen und lobte die Arbeit seines Generals von der Goltz, der es doch geschafft habe, „sie zu Ebenbildern preußischer Grenadiere zu drillen!“ Lächelnd zustimmend, nickte der Großherr dem Kaiser zu, war jedoch innerlich verärgert über dessen Aussage. War ihm denn nicht klar, daß diese Männer Nachkommen jener sind, die Wien bedrohten? Aber der Ärger wich bald, da der Sultan im Jubel der Massen unterging, die sich gegen die doppelten Reihen der Bajonette drängten. Es wurde zwar der Befehl gegeben, das Kaiserpaar in die Zurufe einzuschließen, doch gab es für den normalen Bürger nur einen Padişah, der über allem Irdischen stand. Die Jubelrufe dankte der Sultan seinen Untertanen mit seiner kleinen, behandschuhten Rechten, die in ihm immer noch den „Schatten Gottes auf Erden“ sahen.

Fünf Tage lebte das deutsche Kaiserpaar in einem „Traum aus Tausendundeiner Nacht“, wie die Kaiserin Auguste Viktoria sich ausdrückte, bedient von Dienern und Eunuchen, vom goldenem Tafelgeschirr speisend, während jeden Morgen ein Bote des Sultans eine Kostbarkeit als Geschenk brachte und sich nach dem Wohlergehen des Paares erkundigte. Der Sultan führte das Kaiserpaar durch den Yildiz-Park, präsentierte voller Stolz seine Menagerie mit wilden Tieren aus aller Welt, sein herrliches Araber-Gestüt sowie das große Vogelhaus mit exotischen Vögeln. Die Kaiserin war von der Tier- und Blumenliebe des Sultan-Kalifen gerührt. Noch gerührter zeigte sie sich, als Abdülhamid ihr bei einem Besuch seiner berühmten Rosengärten ein Bukett zum Geschenk machte, in dessen Mitte ein riesiger Diamant stak. Anläßlich des Besuchs ließ er die großen Tore des Schatzhauses öffnen, und als Wilhelm II. seine Bewunderung über einen Säbel mit Edelsteinen besetztem Griff bekundete, der einst dem ersten osmanischen Kalifen Sultan Selim I. gehörte, erhielt er ihn schon als Präsent. Während die Kaiserin die Pracht der Stadt genoß (was eine Abwechslung zum eintönigen und bürgerlichen Potsdam war), zeigte der Kaiser Interesse an den neuen Schulen und Kollegs, insbesondere an den militärischen Ausbildungsstätten. In einem Telegramm berichtete ihm sein General von der Goltz, „daß der osmanische Soldat einer der besten der Welt sei.“ Davon hatte sich der Kaiser selbst überzeugen können. Mit Begeisterung sprach der Kaiser über die osmanischen Truppen, was Abdülhamid von der Richtigkeit seiner Politik überzeugte. Rußland hätte es 1877 nicht gewagt einen Krieg zu beginnen, wenn nicht die Mittelmächte ihre stillschweigende Billigung gaben. Nun hatte das Osmanische Reich neue Verbündete, und schon Bismarck bezeichnete den Sultan als einen „der größten Diplomaten der Weltgeschichte.“

Der Selamlık, die Fahrt des Sultans zum Freitagsgebet
Dem Osmanischen Reich wird neues Leben eingehaucht

Der Kaiser erkannte die Zeichen der Zeit, und das Osmanische Reich bot ihm nicht nur einen Markt für deutsche Industriegüter, sondern verfügte in reichem Maße über alle Rohstoffe, an denen es Deutschland mangelte. Den Osmanen waren Benzinmotor und Ölförderung unbekannt. Wilhelm II. sah ein Mammut-Projekt vor sich, was in die Realität umgesetzt werden müsse. Deutsche Techniker und Ingenieure würden diesem sterbenden Land, welches nicht an Armut sondern an Vernachlässigung leide, neues Leben einhauchen. Ein gewaltiges Netz von Kanälen und Eisenbahnen würde die Araber am Persischen Golf näher an Konstantinopel binden. Der Kaiser war ein Mensch, für den Träume rasch zur Wirklichkeit wurden, und selbst der skeptische Sultan war fasziniert, als der Kaiser ihm vorschlug, gemeinsam die Wiederbelebung des Osmanenreichs in Angriff zu nehmen.
Ich weiß, daß Eure Majestät Französisch sprechen.“ Mit diesem kurzen Satz gelang es Wilhelm, die Sprachschranke zu beseitigen, und damit auch die Dolmetscher, die bis dahin zwischen dem Sultan und seinen ausländischen Gästen gestanden hatten. Weder Abdülhamid noch Wilhelm II. sprachen ein sehr fließendes Französisch, aber es reichte hin, um sich verständlich zu machen, und sie führten stundenlange Gespräche unter vier Augen, während die Palastkamarilla, die Hohe Pforte und die ausländischen Botschafter Mutmaßungen aufstellten, welche Folgen sich wohl aus dieser neuen Freundschaft ergeben könnten. „Man nimmt an, daß keine politischen Fragen erörtert wurden“, berichtet der britische Botschafter Sir William White, der, im Gegensatz seiner Kollegen, die Freundschaft zwischen Deutschland und dem Osmanischen Reich sehr begrüßt. England war zu jener Zeit dem Kaiser wohlgesonnen, da er der Enkel der Königin Victoria war. Zwar schätzte der Sultan den britischen Botschafter, jedoch war der Bruch mit England längst besiegelt. Die englische Besetzung Ägyptens entging dem Sultan nicht, und die Rufe nach Reformen seitens der Regierung sah Abdülhamid mit zornigen Augen. White schrieb: „Abdülhamid ist schlau genug, zu erkennen, daß Deutschland und Rußland nicht gut aufeinander zu sprechen sind, und wird die Situation nützen, um sich seine Unabhängigkeit zu bewahren und den russischen Bemühungen, ihn zu einem Bündnis zu überreden, Widerstand entgegenzusetzen.“ Aus diesem Grunde wurden alle pro-russischen Paschas am Hofe während des Besuchs „beurlaubt“. Am Abend speisten die 120 Gäste im großen Bankettsaal des Merasim Köşk, von goldenem Tafelgeschirr und tranken aus kristallenen, mit Edelsteinen besetzten Gläsern. Der Sultan selbst aß nichts von den europäischen Gerichten, sondern begnügte sich mit einem schlichten Reis-Gericht (Pilav) und erklärte, er halte Diät. Nach dem Diner begleiteten ihn die deutschen Gäste in einen Raum des Palastes, von dem aus sie einen einzigartigen Blick auf den Bosporus hatten. Das Feuerwerk begann, und Wilhelm II. erfreute sich an der Farbenpracht, ganz im orientalischen Stil.

Während der fünf Tage, die das Kaiserpaar in der osmanischen Hauptstadt verbrachte, ließ es sich Wilhelm II. nicht nehmen, Moscheen, Schulen sowie archäologische Stätten zu besichtigen. Kaiserin Auguste Viktoria besichtigte mit dem obersten Eunuchen und einer Sultanstochter den Harem. Die Kaiserin, scheu und zurückhaltend, tauchte in eine Welt ein, die nicht mit den europäischen Ansichten des Harems vereinbar waren. Anstatt nackte Schönheiten vorzufinden, die sich den ganzen Tag in heißen Bädern aufhielten, fand sie eine familiäre Atmosphäre vor, wo die Ehefrauen des Sultans mit dem Thronanwärter und Prinzessinnen hausten. Die Begegnung mit der Mutter des Sultans, der „Valide Sultan“, verlief sehr unglücklich: Die ihr dargebotene Hand der Valide Sultan wurde geschüttelt anstatt geküsst. Die osmanische Hofetikette war ihr gänzlich unbekannt und so wurde sie von den Frauen des Harems als „ungehobelt“ abgestempelt. Die Sultanstöchter jedoch überreichten ihr beim Verlassen des Harems ein Bukett, das vollständig aus Edelsteinen bestand.

Ende des kaiserlichen Besuchs

Am letzten Abend kam es zu einer bewegenden Zeremonie: Der Kaiser zeichnete Sultan Abdülhamid mit dem Hausorden der Hohenzollern mit Halsband aus, und als der Sultan sich beugte, um das Band zu empfangen, nahm er den roten Fez ab - es war das erste Mal, daß sich der Sultan öffentlich mit unbedeckten Haupt zeigte. Beim Essen im Dolmabahçe Saray am Tag der Abreise sprach Wilhelm II. von der „unverbrüchlichen Freundschaft Deutschlands für den Sultan und das osmanische Volk“, und als der Augenblick des Abschied nahte, wurde Abdülhamid zu seiner Verlegenheit vom Kaiser herzlich umarmt. Aber der Sultan lächelte und schätzte es sehr; daraufhin verabschiedete er das Kaiserpaar und drückte seine tiefe Dankbarkeit und Ehre aus, daß sie seine Gäste sein durften. Als der Sultan zu seinem Sitz nach Yildiz zurückfahren wollte, flog ein Paket über die Bajonetten der Soldaten und landete vor den Füßen des Sultans. Im ersten Augenblick dachte er, dies sei das Ende – die Bombe. Entsetzt schrie die Menge auf, während ein Soldat der Albaniergarde sich über das Bündel warf, um seinen Sultan zu schützen. Aber dann stellte sich heraus, es war ein neugeborenes Kind, das eine Mutter ihrem Großherrn anvertrauen wollte. Ein erleichtertes Aufatmen folgte, als die Menschen ihren Sultan zum ersten Mal lächeln sahen, während er zärtlich den Kopf des Säuglings streichelte. Dies Kind, das Allah zu seinem Schutz sandte, war ein gutes Omen und eine Krönung des deutschen Besuches. In den Palast zurückgekehrt, gab Abdülhamid Befehl, es in den Harem zu bringen, wo es auf seine Kosten aufgezogen werden sollte.

Literatur:
Joan Haslip: Der Sultan. Das Leben Abd ul-Hamids II.
Vahdettin Engin: II. Abdülhamid ve Dis Politika