Das politische und wirtschaft­liche System des Kaiserreichs und der BRD im pointierten Vergleich

von Dr. Bruno Bandulet

Der Autor vergleicht in diesem Artikel von 2013 das politische und wirtschaftliche System des Kaiserreichs mit dem der Bundesrepublik und räumt pointiert mit der weitverbreiteten Ansicht auf, das Kaiserreich sei gegenüber der Bundesrepublik in allem rückständig und in jeder Hinsicht unterlegen gewesen. Gerade jetzt, zum Centennium des Ersten Weltkrieges, dominiert das vorwiegend negative Bild des Kaiserreichs die allgemeine Berichterstattung und bedarf dringend einer Korrektur.

Demnächst in diesem Theater: 1914 und das Kaiserreich

Nur noch kurze Zeit bis 2014, dann werden 100 Jahre seit der Urkatastrophe vergangen sein, in der sich das alte Europa selbst in die Luft sprengte, die dem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg Deutschlands zur Weltmacht ein Ende setzte. Dann werden sich Medien, Historiker und Politiker mit mehr oder weniger volkspädagogischem Eifer dem Anlaß zuwenden. Sie werden die Frage der Kriegsschuld wieder aufrollen, über den deutschen „Sonderweg“ räsonieren, über das Kaiserreich den Stab brechen und über einen Mangel an Demokratie klagen, zu der die Deutschen erst nach Vollendung ihres langen Weges nach Westen gefunden hätten. Daß wir so lange warten mußten, um im freiesten Staat der deutschen Geschichte zu leben, ist eine zur Staatsräson erhobene Selbstdarstellung der hierzulande herrschenden politischen Klasse.

Woran aber läßt sich Freiheit messen?
Wie schneidet das 1871 gegründete und 1918 untergegangene Kaiserreich ab im Vergleich zu anderen Staaten vor 1914 und im Vergleich zur heutigen Bundesrepublik Deutschland?

Nicht schlecht, alles in allem.

Karte des Deutschen Kaiserreiches mit den Wappen der Bundesstaaten

In Großbritannien wurde das gleiche, geheime und direkte Wahlrecht erst 1918 eingeführt, im Deutschen Reich bereits 1871. Wahlberechtigt waren die Männer ab 25 Jahre, die Frauen – wie anderswo – erst nach 1918. In England und Frankreich wurde bei den Wahlen manipuliert, in Deutschland wurden sie korrekt durchgeführt. Die kommunale Selbstverwaltung im Kaiserreich war weitaus „demokratischer“ organisiert als in England, wo sie von der Aristokratie und dem niederen Adel dominiert wurde, deren Stimmen ja auch bei den Parlamentswahlen stärker gewichtet wurden als die des gemeinen Volkes. Die Spielart der deutschen Demokratie – verfassungsrechtlich eine konstitutionelle Monarchie – war eine andere als heutzutage, mit spezifischen Defiziten und Vorzügen, mit einer echten Gewaltenteilung zwischen Regierung und Parlament, mit echtem Föderalismus und jedenfalls ohne das zeitgenössische System der Parteienherrschaft.

Oberstes Reichsorgan war der Bundesrat, in dem die Vertreter der 25 Bundesstaaten saßen. Er mußte ebenso wie der Reichstag allen Gesetzen zustimmen. Die direkten Steuern, so die Steuern auf Einkommen und Grundbesitz, waren ausschließlich Angelegenheit der Länder. Es gab keinen Finanzausgleich, keine Vermengung der Einnahmen, keine Verwischung der Zuständigkeiten.

Der Reichskanzler, der zugleich den Vorsitz im Bundesrat führte, wurde vom Kaiser ernannt. Er war insofern unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen im Parlament. In der Realität war es so, daß bis 1914 kein Reichskanzler gegen den Reichstag regieren könnte, weil er auf die Zustimmung zu den Gesetzen und zum Haushalt angewiesen blieb.

Politik ohne den Griff in die Kassen

Der Berufspolitiker war eine noch seltene Spezies. Am ehesten war er bei den Sozialdemokraten anzutreffen, bei denen die Parteiangestellten einen Großteil der Abgeordneten ausmachten. Es sollte noch lange dauern, bis sich die Parteien den Staat zur Beute machten. Erst ab 1906 bezogen die Reichstagsabgeordneten Diäten, schon ab 1902 konnten sie gratis mit der Bahn nach Berlin fahren, um zu beraten und abzustimmen. Für die vier oder fünf Sessionen einer Legislaturperiode mußten sie nicht mehr als einen bis vier Monate opfern. So blieb genug Zeit für den Beruf und zu wenig für eine Gesetzgebung am Fließband mit kürzestem Verfallsdatum, zu wenig für das ständige Drehen an der Umverteilungsschraube und für die Düngung eines undurchdringlichen Steuerdschungels. Nie herrschte weniger Leerlauf und mehr gesunder Menschenverstand in einem deutschen Parlament.

Im Jahr 1900 trat das Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft, eine geniale, einmalige Kulturleistung. Unvorstellbar, daß heute der Bundestag und die staatliche Bürokratie noch die sprachliche und intellektuelle Kraft besäßen, ein solches Werk zu produzieren. Übrigens: Ihre Fraktionen mußten die Abgeordneten selbst finanzieren. Fraktionszwang in der heutigen Form herrschte nicht. Im Parlament saßen auch parteifreie Abgeordnete.

Während die Wahlbeteiligung im bundesrepublikanischen System seit Jahren zurückgeht, stieg sie bis zur letzten Reichstagswahl vor dem Krieg 1912 auf 85 Prozent. Der im Berliner Tiergarten seit 1894 ansässige Reichstag – das Gebäude hatte 24 Millionen Mark gekostet – fungierte als Tribüne der Nation, auf der demokratische Öffentlichkeit praktiziert wurde. Die großen Tageszeitungen druckten die wichtigsten Parlamentsreden nach, selbst radikale Auftritte der Linken, selbst zu Zeiten der Sozialistengesetze unter Bismarck.
Sagen zu können, was man denkt, ist gut.
Gehört und nicht totgeschwiegen zu werden, ist besser.

Ein Reichstag der Meinungsvielfalt
Der Reichstag in Berlin zur Kaiserzeit

Statt Einheitsbrei, fortschreitender Sozialdemokratisierung und Parteienkartell: Meinungsvielfalt und ein Reichstag, der nie Langeweile verbreitete. Im 13. Reichstag von 1912 saßen – wie stets seit 1874 – 397 Abgeordnete, darunter 110 Sozialdemokraten, 45 Nationalliberale und 42 Linksliberale, 57 Konservative, außerdem die 91 Katholiken des Zentrums sowie die Vertreter der polnischen und dänischen Minderheiten.

Ein buntes Meinungs- und Parteienspektrum also mit der kompletten Bandbreite von links nach rechts – mit der konservativen Partei, die in der Zeit nach Bismarck von 25 Prozent der Stimmen bis auf 12,3 Prozent zurückgegangen war, mit liberalen Parteien, die schließlich unter 30 Prozent rutschten und mit Sozialdemokraten, die ihr Gewicht bis auf ein Drittel ausbauen konnten. Bestellt wurde der Reichstag nach dem Mehrheitswahlrecht, was häufige Stichwahlen notwendig machte, wenn im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit verfehlt wurde.

Die Abgeordneten genossen Immunität, waren laut Verfassung an Weisungen nicht gebunden und verstanden sich als Vertreter des gesamten Volkes. Das Wahlrecht förderte ihre Unabhängigkeit von den Parteiführungen. Erst ein späterer Bundestag konnte es wagen, auf Distanz zum Volk zu gehen und im nördlichen Innenhof des für 600 Millionen umgebauten Reichstagsgebäudes eine seltsame Installation der „Bevölkerung“ zu widmen.

Ein Staat, der Eigentum respektierte
Ein buchstäblich „Goldenes Zeitalter“: 20 Markmünze mit Porträt Wilhelms II. und Reichsadler, Prägejahr 1902

Wer nationale Selbstbestimmung dem Freiheitsbegriff zuordnet, wird im Deutschen Reich nicht weniger fündig. Die Gesetze wurden von gewählten Abgeordneten verabschiedet, nicht von einer anonymen Kommission in Brüssel initiiert, von einem Rat europäischer Regierungen beschlossen und schließlich vom deutschen Parlament gehorsam abgenickt. Die Vorstellung, daß jeder selbst für seine Finanzen verantwortlich ist, war im zwischenstaatlichen Verkehr ebenso selbstverständlich wie zwischen Regierung und Bürgern im Reich. Daß Banknoten jederzeit in Gold eintauschbar waren, garantierte die Reichsbank, die in nationaler Verantwortung ihren Geschäften nachging – auch dies ein wesentliches Souveränitätsmerkmal. Mit Anleihen konnte wertsteigernd gespart werden. Von 1875 bis 1913 stiegen die Preise um nicht mehr als 0,375 % im Jahr bei positiven Realzinsen.

Gemessen an den Eigentumsrechten, der Grundvoraussetzung einer florierenden Wirtschaft, war das Kaiserreich ohne Zweifel der freieste Staat der deutschen Geschichte. Der Staat sorgte für Recht und Ordnung, setzte die Rahmenbedingungen und überließ es den Bürgern, ihr Leben in Selbstverwaltung frei zu gestalten. Die Belastung pro Kopf in Form von direkten und indirekten Steuern belief sich 1913 in Deutschland auf 54,62 Mark, erheblich weniger als in Frankreich oder England. Von Januar bis Juli für den Fiskus arbeiten zu müssen und erst danach auf eigene Rechnung, wäre den Untertanen des Kaisers als absurd erschienen.

Am Vorabend des Ersten Weltkrieges griff das Reich gerade einmal auf 14 Prozent des Volkseinkommens zu und sorgte dafür für die besten Universitäten der Welt, das fortschrittlichste Schulsystem, eine beispiellos niedrige Analphabetenquote von 0,9 Prozent und eine schlanke, korruptionsfreie und hocheffiziente Verwaltung, die „beste der Welt“, um den Sozialdemokraten Otto Braun, den letzten preußischen Ministerpräsidenten, zu zitieren. (Mehr Zahlen und Fakten bei Ehrhardt Bödecker: Preußen und die Wurzeln des Erfolgs, München 2004.) Mit der nach Rußland jüngsten Bevölkerung Europas sahen die Deutschen stolz, optimistisch und fortschrittsgläubig in die Zukunft.

Das Kaiserreich – nicht in allem, aber in vielem vorbildlich – überlebte länger, als Weimar, das NS-Regime und die Adenauer-Zeit zusammengenommen dauerten. Daß und warum es im Sommer 1914 in einen Krieg schlitterte, der sich mit dem Eintritt der USA 1917 zur europäischen Tragödie auswuchs, ist eine andere Geschichte.


Video: Interview mit dem Autor Dr. Bruno Bandulet über die Euro-Krise im historischen Kontext