Deutschland und England:
das eigentliche Problem

The Saturday Evening Post, Philadelphia, 21.11.1914

von Dr. Bernhard Dernburg

The Saturday Evening Post, damals auflagenstärkste Wochenzeitschrift der USA, veröffentlichte im Herbst 1914 eine Artikelserie über den Ersten Weltkrieg. Darin sollten prominente Vertreter Frankreichs, Englands und Deutschlands den amerikanischen Lesern den Krieg aus der Perspektive des jeweiligen Landes erklären.
Den ersten Artikel verfaßte am 12. November der Engländer Arnold Bennett; der ehemalige französische Ministerpräsident Clemenceau folgte am 24. Oktober. Der deutsche Beitrag von Bernhard Dernburg erschien am 21. November. Aus diesem Beitrag bringen wir den Schluß, in dem Dernburg die aus seiner Sicht wirklichen Gründe für den englischen Kriegseintritt darstellt. Der Artikel erschien aufgrund seiner Popularität im Jahre 1915 unter dem Titel "Search-Lights on the War" in den USA auch als Broschüre.
Bernhard Dernburg, aus einer jüdischen Familie stammend, war als Bankier, Aufsichtsrat und Kolonialbeauftragter früh international vernetzt. In der Weimarer Republik war er kurzzeitig Finanzminister und Vizekanzler sowie 10 Jahre lang Reichstagsabgeordneter der linksliberalen DDP, die er mitbegründet hatte.

Bernhard Dernburg

England hat einen großen Seehandel erschaffen und enorme Besitzungen in Übersee erworben, und es fühlte sich in seiner Vormachtstellung sicher. Nur in Bezug auf die Vereinigten Staaten war es beunruhigt, die – bis Deutschland am Horizont als Großmacht auftauchte – von ihr behandelt wurden wie Deutschland vorm Kriege.

Jetzt aber fühlte es, daß seine absolute Macht in Gefahr war.

Selbst in seinem eigenen Herrschaftsgebiet erzielt es einen sehr großen Anteil am Geschäft nur mit ausländischer Hilfe. Die meisten der großen Bankiers, von Rothschild abwärts, sind deutscher Herkunft; das gesamte englische Kreditwesen wäre zusammengebrochen, wenn die englischen Machthaber Baron Schröder nicht gezwungen hätten, innerhalb von vier Stunden englischer Staatsbürger zu werden; das Diamanten- und Goldgeschäft ist in den Händen von anglisierten Deutschen; es gibt eine große Beteiligung im Bereich von Produktionsunternehmen. Die Engländer können ohne deutsche Angestellte nichts anfangen.

Deutscher Aufschwung als Problem für England

Ich erinnere mich an eine Rede des Vorsitzenden der Londoner Handelskammer, Lord Southwark, nicht länger zurückliegend als letzten Juni [1914], in der er sagte: »Ihr Deutschen überholt uns, weil ihr sechzehn Prozent mehr arbeitet als wir und weil ihr den Sonnabend nicht als Feiertag betrachtet.«

Die Deutschen lernen sämtliche Sprachen, während Engländer dies sehr selten tun. Wenn ein Engländer einen Stenographen sucht, um einen portugiesischen Brief nach Brasilien zu schreiben, muß er sich einen deutschen Schreiber nehmen.

Die deutsche Handelsmacht wurde in der gesamten Welt durch die Tatsache begründet, daß die Deutschen mit den Leuten in deren eigener Sprache sprechen, deren nationale Gefühle respektieren und ihre nationalen Bedürfnisse herausfinden und an sie genau das liefern, was sie zu erhalten wünschen. Der Deutsche sagt nicht »Wir können dies nicht tun« oder »Ihr müßt unsere Standards übernehmen«, sondern führt sorgsam ihre Bestellungen aus, entsprechend den besten wissenschaftlichen Methoden und deshalb zum besten Preis.

Die deutsche Stahlindustrie hat, wegen ihrer verbesserten Methoden, einen großen Anteil am englischen Handel erlangt. Deutsche StahlindustrieDeutsche Maschinen sind, die Textilindustrie ausgenommen, effektiver als englische Maschinen. Der Bereich der elektrischen Industrie ist von England zugunsten Amerikas und Deutschlands vollständig aufgegeben worden.
Heute werden Farbstoffe über Amerika und Kanada zurück nach England verschifft. Deutsche eigenentwickelte Medikamente haben den Weltmarkt erobert, und die deutsche Konkurrenz ist überall zu spüren.

Sodann gibt es auch einen spürbaren Zuwachs an deutschen Schiffen, ungeachtet der Tatsache, daß praktisch sämtliche im Passagierbereich tätigen englischen Gesellschaften zur Hälfte pleite sind. Während die International Mercantile Marine Company die Zahlungen eingestellt hat und die großen Linienschiffe der Cunard Line nur durch Zuschüsse überleben können, wurde von Deutschland eine recht prachtvolle Handelsmarine aufgebaut mit Schiffen, die im Komfort und in der Größe jedes beliebige von Englands Werften vom Stapel gelassene Schiff übertreffen. Selbst in das Geschäft der Bedarfsschifffahrt, des Rückgrates der englischen Schifffahrt, sind die Deutschen in umfangreichem Maße vorgedrungen.

Während also der Handel von Großbritannien und Irland seit 1870 von zwei Milliarden Dollar auf fünfeinhalb Milliarden stieg, ist der Deutschlands von einer auf fünf Milliarden gestiegen – mit anderen Worten, während Deutschlands Handel jetzt das Fünffache dessen beträgt, was er im Jahre 1870 betrug, beträgt der englische Handel nur das Zweiundeinhalbfache des einstigen Umfangs. Für eine Handelsnation wie England ist dies eine sehr ernste Situation. Sie betrifft das Herzstück der Existenz der Nation.

Krieg gegen Deutschland als Lösung für England

Demzufolge stand Großbritannien vor der Alternative, bessere Arbeitsgewohnheiten, verbesserte Maschinen, bessere Ausbildung, bessere Fremdsprachenkenntnisse zu erlangen – was heißt: fleißiger, weniger luxuriös und arbeitsamer zu sein – oder zu kämpfen.

Aber England war nicht daran gewöhnt, seine eigenen Kämpfe durchzustehen, ausgenommen mit der Flotte. Seine anderen Kollegen, deren Wohl ihm Herzensangelegenheit war, konnten für England in den Kampf ziehen, es war für England also nicht sehr schwer, seine Wahl zu treffen.
Das ist die wirkliche Erklärung für den gegenwärtigen Krieg.

Die Richtigkeit dieses Blickwinkels wird erwiesen durch die ständigen Aufforderungen Englands an Amerika, ihm dabei zu helfen, vom deutschen Handel loszukommen, eine Idee, die auf den amerikanischen Geist abstoßend wirkt.

Es war also nicht Deutschlands Militarismus, den England fürchtete, sondern den deutschen Handel und Handelsverkehr, welche es nicht zerstören konnte, wegen der dahinterstehenden Militär- und Flottenmacht.

Deutschland verteidigt sich

Deutschland wird jetzt von sieben Nationen angegriffen.
Es kämpft moralisch für seine Freiheit und für sein Dasein. Gegen niemanden empfindet es Groll. Es ist in seinen Ansprüchen maßvoll und will lediglich seinen Platz unter der Sonne behaupten.
Es tritt ein für Chancengleichheit, eine Politik der offenen Tür und weltweit offenen Handelsverkehr.

Es ist weder hunnisch noch barbarisch, wie die Amerikaner von den 25 Millionen Deutschen oder Deutschamerikanern erfahren haben werden, die in ihrer Mitte leben.
Deutschland ist auf Expansion aus, allerdings auf friedliche Weise, eine auf höhere Gewinne zielende Art und Weise, wodurch die Tüchtigeren und Arbeitsameren gewiß sein können, Erfolg zu haben. Dies ist für die ganze Welt von Interesse.

Deutschlands Bilanz ergibt vierundvierzig Jahre Frieden, und es hat niemals den Besitz seiner Nachbarn begehrt. Was also den moralischen Aspekt betrifft, schneidet es von den sich jetzt im Krieg befindenden Nationen am besten ab.