Deutsche Flottenrüstung vor dem Ersten Weltkrieg

von Dr. H.-Manfred Becher  (www.manfredbecher.de)

Der Autor zeigt, daß die deutsche Flottenrüstung vor dem Ersten Weltkrieg den Deutschen keinesfalls als Schuld am deutsch-britischen Antagonismus und am Ausbruch des Ersten Weltkriegs angelastet werden kann.

Nach den vor dem Ersten Weltkrieg weltweit anerkannten Ansichten hatte jeder Staat das Recht auf für Defensive ausreichende Streitkräfte. Somit durfte die Deutsche Führung sich ab etwa 1895 ethisch berechtigt fühlen, zusätzlich zu den Landstreitkräften eine ausreichend starke Defensivflotte aufzubauen, nachdem das Deutsche Reich in den nationalen Rangfolgen von Industrieproduktion und Welthandel ab ca. 1895 an dritter oder sogar zweiter Stelle stand, die größten Zuwachsraten auf diesen Gebieten hatte und daher maritime Aggressionen anderer Großmächte nicht mit Sicherheit auszuschließen waren. Speziell gegenüber der damals führenden Industrie- und Handelsmacht Großbritannien ergab sich die Notwendigkeit einer ausreichend starken deutschen Defensivflotte daraus, daß die Briten etwa um 1898 begannen, ihre Flotte in geradezu bedrohlichem Maß zu verstärken und 1897 den deutsch-britischen Handelsvertrag einseitig kündigten.

Die SMS König

Relationen der deutschen Flottengröße von bis zu 65% der britischen wären ethisch zu vertreten gewesen. Denn damit hätte die deutsche Flotte die damals weltweit anerkannte Stärkerelation für eine hinlängliche maritime Verteidigung (66% des Angreifers) zwar erreicht, wäre aber zur ernsthaften Gefährdung der britischen Inseln auch dann zu schwach gewesen, wenn tatsächlich erhebliche Teile der britischen Flotte in der Nordsee nicht zur Verfügung gestanden hätten, und dies war wegen der günstigen Bündnissituation Großbritanniens und dessen günstiger geographischen Lage nicht der Fall.

Nun begnügte sich die deutsche Führung von Anfang an mit noch kleineren Durchschnittsrelationen, und der Reichstag erniedrigte 1900 die Planungsziele noch weiter, und danach legte die deutsche Führung dem Reichstag keine Planungsendzahlen zur Bewilligung vor, die zu Relationen von über 55% der beim jeweiligen Bewilligungszeitpunkt seriös zu prognostizierenden britischen Zahlen geführt hätten! Also waren alle Beschlüsse zur Verstärkung der deutschen Flotte ab 1900 Folgen der überzogenen britischen Aufrüstungen!

Diese Fakten machen sowohl die defensive Grundhaltung der deutschen Führung, wie auch die friedliche Grundeinstellung der großen Mehrheit aller Deutschen noch klarer. Denn ganz allgemein wurde eine gewisse Vormachtstellung Großbritanniens akzeptiert. Also entspricht die offizielle deutsche Erläuterung des „Risiko-Gedankens“ der Wahrheit, dieser sei ein Defensiv-Prinzip. Die vom deutschen Reichstag bewilligten Kampfschiffszahlen waren für die Verteidigung der deutschen Inseln und Küsten knapp ausreichend. Die von Vizeadmiral Galster zur Debatte gestellte Verteidigungsmethode – Zusammenwirken von Torpedobooten, U-Booten und starker Küstenartillerie mit nur wenigen großen Kampfschiffen – wäre zwar politisch besser gewesen als das Tirpitz-Konzept, damals aber unverantwortlich, weil die Abwehreffektivität der Torpedowaffe gegen viele große Kampfschiffe noch weitgehend unbekannt und eine ausreichend starke Küstenartillerie aus mehreren Gründen nicht realisierbar war. Auch die 1908 vom Reichstag bewilligte Verkürzung der Linienschiffsersatzzeiten und der Übergang zum Bau von Großkampfschiffen ab 1907 berechtigen nicht zu Vorwürfen gegen die deutsche Flottenrüstung. Denn beide Entscheidungen folgten britischen Vorbildern und waren zwangsläufige Folgen von Fakten, die die Briten vorgegeben hatten (durch nichts zu rechtfertigende Vergrößerung der Zahlen britischer Schlachtschiffe und Schweren Kreuzer ab 1898 und gewaltige Verstärkung der einzelnen britischen großen Kampfschiffe ab 1905).

Deutschlands Verantwortung
Die SMS Moltke

Daß die deutsche Führung eine erhebliche Übermacht der britischen Flotte hinnahm, darf ihr nicht zum Vorwurf gereichen, sie habe durch ihr Verhalten den deutsch-britischen Antagonismus verschärft. Die Forderung G. Roths, man dürfe „Deutschlands Verantwortung für die ‚Urkatastrophe‘ des Ersten Weltkriegs nicht zu gering ansetzen“, ist jedenfalls aus dem hier diskutierten Zusammenhang heraus nicht zu begründen. Wer oder was aber hat den genannten Antagonismus wohl provoziert und verschärft: das Deutsche Reich, das sich mit einer durchschnittlichen Planungsendstärke seiner Flotte von 54%-58% der britischen begnügte (die Schiffe mit Dienstalter von maximal 20 Jahren miteinander in Beziehung gesetzt [s.o.]), oder Großbritannien, das den Deutschen spätestens ab 1910 nur eine Flottengröße von maximal 50% der britischen zugestand? Es gab keine ethisch akzeptablen Gründe für diesen britischen Anspruch! Denn nach der damals international anerkannten Lehre hatte der Verteidiger nur dann gute Chancen für erfolgreiche Abwehr von Angriffen, wenn er die Stärke von mindestens 66% der Stärke des Angreifers aufbieten konnte!

Allenfalls könnte man dem deutschen Kaiser und seinen Beratern politische Fehler und Irrtümer anlasten – aber auch das nur nach unserem heutigem Wissen. Zudem hatte sich keiner der von Kritikern der tirpitzschen Flottenplanung vorgebrachten Alternativvorschläge in der Praxis zu bewähren. Trotzdem wird weithin die Schuld an der starken Flottenrüstung der Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg vorwiegend oder sogar ausschließlich den Deutschen angelastet, wobei u. a. folgende Behauptungen unkritisch und ohne redliche Beweisführung kolportiert werden:

a) Die für die Sicherung der Versorgung der britischen Inseln und die zur Erfüllung „außereuropäischer Aufgaben“ erforderlichen Kriegsschiffe dürften nicht in den Zahlenvergleich mit der deutschen Flotte einbezogen werden.

b) Tirpitz’ Übergang zum Bau von Großkampfschiffen sei unberechtigt-aggressiv gewesen. Durch den Bau der Großkampfschiffe seien alle älteren großen Kampfschiffe „altes Eisen“, also weitgehend wertlos geworden. Und diese Tatsache sei für die britische Flotte weit schwerwiegender gewesen als für die deutsche.

c) Wichtig für die Bewertung der deutschen Flottenrüstung sei der Vergleich des Quotienten der Stärke der deutschen Flotte zur Gesamtlänge der Küsten des Deutschen Reichs mit dem Quotienten der Stärke der britischen Flotte zur Gesamtlänge der Küsten Großbritanniens: Da nämlich die Gesamtlänge der Küsten Großbritanniens erheblich größer war als die der Küsten des Deutschen Reichs, sei der Quotient Stärke der britischen Flotte zur Gesamtlänge der britischen Küsten wesentlich kleiner als der Quotient der deutschen Zahlen gewesen.

Dem ist zu entgegnen:

ad a: Wegen der geographischen Situation, dem damaligen Stand der Technik und dem Fehlen deutscher Flottenstützpunkte am Atlantik konnte die britische Flotte die Nordsee abriegeln. Daher konnten die deutschen Linienschiffe und Kreuzer die britischen Versorgungsschiffe, von geringfügigen Ausnahmen abgesehen, prinzipiell nicht gefährden. Zudem gab es wegen der günstigen Bündnissituation Großbritanniens keine bedeutsamen „außereuropäischen Aufgaben“ für die britischen Schlachtschiffe und Schweren Kreuzer, die ethisch anzuerkennen wären. Die trotzdem außerhalb des Nordseebereichs eingesetzten Schlachtschiffe und Schweren Kreuzer konnten bei Bedarf in diesen zurückbeordert werden, was auch ab 1912 weitestgehend geschah. Aus diesen Gründen ist die unter a) genannte Schlußfolgerung falsch!

ad b: Zumindest die 10 britischen Predreadnought-Schlachtschiffe mit >16000 t wdp waren durch den Großkampfschiffbau nicht wertlos geworden, was z. B. ihr Einsatz bei der Dardanellen-Operation im Ersten Weltkrieg zeigte und sich theoretisch für Defensivaufgaben im britischen Küstenbereich nachweisen läßt; demgegenüber besaß die deutsche Flotte nur 1 Predreadnought-Kampfschiff mit >13200 t wdp, den Großen Kreuzer Blücher mit 15800 t wdp. Ganz offensichtlich soll mit der unwahren Behauptung vom „Alten Eisen“ die extreme Übermacht der britischen Flotte verschleiert werden. Darüber hinaus stellt die Behauptung, Tirpitz’ Übergang zum Großkampfschiffbau sei unberechtigt aggressiv gewesen, die Situation bei den Großkampfschiffen auf den Kopf: Sie legt nämlich nahe, die Deutschen hätten den Bau der Großkampfschiffe initiiert und nicht die Briten, während es doch genau umgekehrt war. Die britische Flotte verfügte nicht nur über eine wesentlich größere Anzahl noch ausreichend brauchbarer Predreadnought-Kampfschiffe (10 Schlachtschiffe mit 16600-16750 t wdp und 13 Große Kreuzer mit ca. 14000 t wdp), sondern von Anfang an auch über erheblich mehr Großkampfschiffe als die deutsche. Daher ist auch die Behauptung falsch, die Entwertung der Predreadnought-Schiffe habe die britische Flotte stärker getroffen als die deutsche!

Die SMS Rheinland im Jahr 1914

ad c: Wegen der schon damals relativ hohen Marschgeschwindigkeit der größeren Kriegsschiffe ist Annahme falsch, die Quotienten {(Stärke der Flotte) / Küstenlänge} seien für den Vergleich wesentlich!

Nur auf Grund des heutigen Wissens kann man vermuten, daß es für Deutschland besser gewesen wäre, wenn die deutsche Führung sich den britischen Hegemonie-Ansprüchen gebeugt hätte (z.B. durch Beschränkung der deutschen Flottengröße auf 45-50% der britischen als politische Vorleistung) und aus dieser Situation das Bestmögliche gemacht hätte. Aber im Nachhinein ist man immer klüger oder glaubt, dies zu sein. Damals konnte die deutsche Führung mit gutem Gewissen davon überzeugt sein, daß die Beschränkung ihrer Planungsziele auf die vom Reichstag bewilligten Zahlen die britische Vormachtstellung zur Genüge anerkenne; denn sie waren so klein, daß ein Großbritannien gefährdendes Vorgehen ausgeschlossen war. Die deutsche Führung konnte mit Fug und Recht erwarten, daß auch Großbritannien dies würdige, zumal sie  bei der Verwirklichung ihres Programms sich nicht nur nach britischen Vorgaben richtete, sondern auch eher defensiven technischen Auslegungen den Vorzug gab.

Schuldig am In-Gang-Setzen einer Rüstungsspirale und an den daraus folgenden zwischenstaatlichen Spannungen kann wohl kaum der Staat sein, der freiwillig einem anderen die etwa 1,7fache Stärke der eigenen zugesteht und sich darüber hinaus lediglich darum bemüht, waffentechnologisch nicht zu sehr ins Hintertreffen zu geraten. Das wäre doch eher jener, der für sich eine erheblich darüber hinausgehende Übermacht beansprucht, die in diesem Ausmaß weder für seine Verteidigung, noch zur Sicherung seiner Versorgung nötig ist. Eine solche Übermacht wirkt bedrohlich, besonders auf Wirtschaftskonkurrenten des übermächtigen Staats.

Fazit

Die deutsche Flottenrüstung vor dem Ersten Weltkrieg kann den Deutschen keinesfalls als Schuld am deutsch-britischen Antagonismus und am Ausbruch des Ersten Weltkriegs angelastet werden, weil die deutschen Planungsziele so weit unter den britischen Zahlen lagen, daß die maritime Verteidigungsfähigkeit des Deutschen Reichs nur knapp gesichert und ein ernst zu nehmendes offensives Vorgehen der deutschen Streitkräfte gegen Großbritannien völlig ausgeschlossen war.

Schon die anfängliche Erhöhung der britischen Maritimaufrüstung ab 1890 musste Befürchtungen auslösen, aber die weiteren Erhöhungen der britischen Bauraten der großen Kampfschiffe ab 1898 und der um etwa 1910 von der britischen Führung trotz des schon verwirklichten britischen Bauvorsprungs bei den Großkampfschiffen verkündete Grundsatz, für jedes neue deutsche Großkampfschiff zwei eigene bauen zu wollen, sind als bedrohlichaggressiv zu verurteilen. Die Verwirklichung dieses Grundsatzes hätte die Einheitenrelation der deutschen zu den britischen Großkampfschiffen unter 50% gedrückt; damit hätte Großbritannien über mehr als doppelt so viele Großkampfschiffe verfügt wie das Deutsche Reich.