Der Kaiser in der Kritik:

Der angebliche Antisemitismus Wilhelms II.

Die Kritik am Kaiser

Gerade im Hinblick auf die spätere Entwicklung in Deutschland wird von einigen Autoren die Ansicht vertreten, der Antisemitismus des Dritten Reiches stelle nur den Gipfel einer kontinuierlichen Entwicklung deutscher Geschichte dar, und Judenfeindlichkeit sei bereits ein „zentrales Element“ in der Weltanschauung Kaiser Wilhelms II. gewesen.[1] Diese Behauptung ist bei einer objektiven Betrachtung nicht haltbar.

Die Tatsachen

Zurecht nehmen die kritischen Stimmen Bezug auf die Rolle des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker, der seine Predigten mit christlichem Sozialismus und Antisemitismus pfefferte. Zu einem Zeitpunkt, als Kaiser Wilhelm I. (der Großvater Wilhelms II.) alt und der Kronprinz Friedrich (der Vater Wilhelms II.) krank war, wurde der junge Prinz Wilhelm als Mann der Zukunft von vielen Seiten umschmeichelt, ohne daß jemand darüber wachte. So wurde er auch von Stoecker umworben, dem schließlich Bismarck entgegentrat. Durch die empfundene Bevormundung Bismarcks widerspenstig geworden, ließ Wilhelm sich zu der Äußerung hinreißen, als späterer Kaiser dem Einfluß der jüdischen Presse Einhalt gebieten zu wollen.[2] Der Einfluß Stoeckers ließ jedoch bald nach, und Wilhelm II. war während seiner Regierungszeit frei von Antisemitismus. Schließlich mußte Stoecker im November 1890 aufgrund seiner antisemitischen Äußerungen auf Veranlassung des Kaisers seinen Platz als Hofprediger räumen.

Das Emporkommen der patriotischen Bewegung, die auch im Flottenverein ihren Ausdruck fand, wurde vom Kaiser toleriert, ohne daß er jedoch etwas für den Rassismus vieler Alldeutscher übriggehabt hatte. Über diese sagte Wilhelm, sie seien unfähig, konstruktive Gedanken zu entwickeln.[3]

Daß Wilhelm II. sich gar um die Sicherheit der deutschen Juden sorgte, deren Situation im übrigen weit günstiger war als die der Juden in Frankreich oder Rußland, geht aus seiner Äußerung hervor, er befürchte angesichts der öffentlichen Stimmung, daß es auch in Deutschland zu Pogromen kommen könnte.[4]

Theodor Herzl erstrebte einen eigenen „Judenstaat“. Wilhelm II. traf Herzl 1898 in Jerusalem und befürwortete dessen Vorhaben.

In diesen Zusammenhang ist auch Wilhelms Zusammentreffen mit dem österreichischen Zionisten Theodor Herzl einzuordnen. Wilhelm stand Herzls Plan, eine jüdische Kolonie in Palästina zu errichten, nicht ablehnend gegenüber, weil er wußte und befürchtete, daß es immer wieder zum Antisemitismus kommen drohte, wenn die Minorität der jüdischen Bevölkerung ein bestimmtes Verhältnis zu den übrigen Einwohnern des Landes überschritt.[5]
Ein solcher Plan ist dann niemals verfolgt worden, aber die Motive dieser Idee sind keine antisemitischen gewesen. Befürworter der Antisemitismusthese wollen hier gar einen Vorboten späterer Deportationen sehen. Dieses läßt sich aber nicht in die Äußerungen des Kaisers hineininterpretieren. Schließlich stellte Wilhelm II. anläßlich der Dreyfus-Affäre in Frankreich mit Entsetzen fest, daß die „Hydra des rohesten, scheußlichsten Antisemitismus“ überall „ihr greuliches Haupt“ erhebe.[6]

Der Jude Albert Ballin (1857-1918), Gründer der HAPAG, war einer der engsten langjährigen Freunde Wilhelms II.

Wilhelm II. hatte zahlreiche jüdische Freunde. Zu nennen sind Albert Ballin, der die Schiffslinie Hamburg-Amerika besaß, und Emil Rathenau. Diese zählten zu den sogenannten „Kaiserjuden“, wie sie teilweise verächtlich genannt wurden. Dies änderte jedoch nichts an der Freundschaft Kaiser Wilhelms II., was illustriert, daß er sich auch von den Strömungen des Zeitgeistes hier nicht beeinflussen ließ. Viele jüdische Wissenschaftler wurden von ihm zu Professoren ernannt.

Auch Fürst zu Eulenburg, lange Zeit engster Vertrauter Wilhelms II., hatte jüdische Freunde; gleichwohl teilte er Vorurteile gegenüber den Juden. Weder ihm, noch dem Schwiegersohn Richard Wagners, Houston Stewart Chamberlain, gelang es, den Kaiser von diesen Vorurteilen zu überzeugen; Wilhelm II. besaß die Fähigkeit, aus dem, was man ihm sagte, das herauszuhören, was ihm behagte, und den Rest zu ignorieren.

Anläßlich eines dem Kronprinzen zugesandten Verfassungsentwurfs mit starken antisemitischen Tendenzen und der Vorstellung, die Juden sollten aus dem Deutschen Reich vertrieben werden, äußerte der Kaiser mit Verachtung: „Wir würden unserem Nationalwohlstand und Erwerbsleben einen Schlag versetzen, der uns auf den Zustand vor 100 Jahren zurückwerfen und zugleich aus der Reihe der Kulturnationen ausscheiden würde.“[7]

1907 machte der Kaiser den Juden Bernhard Dernburg (1865-1937), den Leiter der Darmstädter Bank, zum Direktor des Kolonialamtes. Der Kaiser mochte den energischen Mann, der es verstand, eine von Aktenstaub freie Luft in das Amt zu bringen, auch wenn dieser sich in höfischer Sitte bisweilen unerfahren zeigte. Diese Ernennung empfanden weite Kreise in Deutschland als einen Affront; auch bei seinem ersten Auftritt vor dem Reichstag stieß Dernburg auf heftige Opposition. Er aber verstand es, durch seine Leistung nach kurzer Zeit allgemeine Achtung zu gewinnen.

1912 wurde in Charlottenburg die größte Synagoge Berlins eingeweiht (sie bot 2000 Personen Platz). Wilhelm II. hatte für den Trausaal der Synagoge Kacheln gestiftet und stattete ihr kurz nach der Eröffnung einen Besuch ab.

Im Sommer 1916 ging Wilhelm II. entschlossen gegen die sogenannte „Judenzählung” in Teilen des deutschen Heeres vor. Hinter der Initiative einer Zählung aller Heerespflichtigen auf Basis ihres Glaubens generell und einer Aufschlüsselung der jüdischen Soldaten nach Einsatzort (Frontdienst, Nachschub, Verwaltung) im speziellen standen antijüdisch eingestellte „Alldeutsche” wie Ferdinand Werner, die mit der Zählung angebliche „jüdische Drückebergerei” nachweisen und gesellschaftlichen Unfrieden stiften wollten.

Wilhelm II. ließ sowohl den Initiator der Zählung, der die Eingabe im Parlament machte, als auch den zuständigen Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn, in dessen Verantwortungsbereich die Erhebung lag, noch vor dem Stichtag der Zählung an die Front versetzen.
Die geforderte „Judenzählung” führte im Deutschen Reich zu einer Welle von Protesten, vor allem Nationalliberale und Sozialdemokraten waren entsetzt über dieses Vorgehen.

Insgesamt dienten im Ersten Weltkrieg 100.000 jüdische Soldaten in der deutschen Armee.
Bis November 1918 waren davon 12.000 gefallen. Bis zum Sommer 1916 wurden 8.500 Eiserne Kreuze zweiter Klasse und 900 erster Klasse als Tapferkeitsauszeichnung an Juden verliehen.

Erst im Exil ließ Wilhelm II. sich zunächst zu vereinzelten judenkritischen Äußerungen hinreißen. Daß diese jedoch kein geschlossenes Weltbild darstellten, läßt sich schon daraus schließen, daß Wilhelm in Enttäuschung und Ärger über den Verlauf der Geschichte wechselnd Juden, die Polen in Ostpreußen und die Franzosen in Elsaß-Lothringen anklagte. Hieraus läßt sich höchstens Verbitterung über den Verlust der Monarchie lesen.

Deutlichster Beweis gegen die Antisemitismusthese ist die Reaktion Wilhelms II. auf die „Reichskristallnacht“ vom 9. November 1938. Er sprach von „Schande“, von „Gangstertum“ und erklärte, „die alten Offiziere und alle anständigen Deutschen müßten protestieren.“[8]
Ebenfalls äußerte er: „Zum ersten Mal schäme ich mich, ein Deutscher zu sein.“[9]
An die englische Queen Mary schrieb er: „Ich bin vollkommen entsetzt über die jüngsten Ereignisse zu Hause!“

Fazit

Kaiser Wilhelm II. kann nach den hier zusammengetragenen Fakten folglich nicht als Antisemit bezeichnet werden. Vor allem war ihm eine rassenideologische Betrachtungsweise wie später im Dritten Reich völlig fremd.

Befürworter der Antisemitismusthese beziehen sich im Wesentlichen auf seine verbitterten Äußerungen im Exil, die keine generellen Schlüsse zulassen, und sie lassen gleichzeitig seine immerhin 30jährige Regentschaft, die durchaus als Protektorat für die Juden in Deutschland aufgefaßt werden kann, außerhalb der Betrachtungen.


Anmerkungen

[1]So etwa John C.G. Röhl, Hartmut Zelinsky, Willibald Gutsche 
[2]Röhl: Kaiser, Hof und Staat – Wilhelm II. und die deutsche Politik, S. 209 
[3]Tyler Whittle: Kaiser Wilhelm II., S. 200 
[4]Tyler Whittle a.a.O. S. 215 
[5]Gerhard Masur: Das kaiserliche Berlin, S. 109-113 
[6]Röhl a.a.O. S. 213 
[7]Tyler Whittle a.a.O. S. 297 
[8]Christian von Krockow: Kaiser Wilhelm II. und seine Zeit, S. 263 
[9]Tyler Whittle a.a.O. S. 387

Zitat

„Eduard Arnhold ist 1913 am Gipfel seines gesellschaftlichen Aufstiegs angelangt, durch den Kohlehandel zu Reichtum gekommen, sitzt er inzwischen im Aufsichtsrat der Dresdner Bank und wird 1913 als erster und einziger Jude von Wilhelm II. in das preußische Herrenhaus berufen – auch geadelt sollte er werden, doch das lehnte Arnhold ab. Sein Geld investiert er fast ausnahmslos in Künstler und in Kunst, er ist mit James Simon der große bürgerliche Kunstmäzen, der dem preußischen Staat etwa 1913 die Villa Massimo in Rom als Kulturinstitut stiftet. Sein eigenes Haus in der Tiergartenstraße ist die souveräne Geschmacks- und Machtdemonstration eines »Kaiserjuden«, wie der spätere israelische Staatspräsident Chaim Weizmann eine Gruppe prominenter Berliner Juden, darunter James Simon, Albert Ballin und Walther Rathenau, wegen ihrer Nähe zu Wilhelm II. despektierlich nannte.”

— Florian Illies: 1913. Frankfurt 2012, S. 184