Der Kaiser in der Kritik:

Die Aufrüstung der deutschen Flotte
(1898-1912)

Die historischen Hintergründe
Ausschnitt aus einer Werbepostkarte für den Deutschen Flottenverein

Nachdem die Supermächte Großbritannien, Rußland, USA und Japan ihre Flotten teilweise bereits Jahrzehnte zuvor hochgerüstet hatten, begann auch das Deutsche Reich 1898 mit der Aufrüstung seiner Flotte. Das wirtschaftlich enorm erfolgreich gewordene, noch junge Deutsche Reich fühlte sich berechtigt, in gleicher Weise am weltweiten Handel teilzuhaben und „Weltpolitik“ zu betreiben.

In der deutschen öffentlichen Meinung war der Flottenbau ungemein populär, auch Intellektuelle wie der Soziologe Max Weber („bitter not ist uns eine starke deutsche Flotte“) begeisterten sich. Der 1898 gegründete Deutsche Flottenverein gewann über eine Million Mitglieder. Die Leidenschaft für die Marine stellte ein nationaldeutsches Phänomen dar, das der Kaiser mit seiner Losung „Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser“ auf den Punkt brachte.
Der Liberale Friedrich Naumann schrieb 1900: „Die Flotte ist eine alte liberale Forderung. Wer das neue industrielle Deutschland will, der muß die Flotte wollen. In diesem Punkt ist unser Kaiser ganz modern.“

Die Idee einer deutschen Flotte war in der Tat nicht neu: Schon die provisorische „Reichsregierung“ von 1848 hatte mit dem Bau einer Nationalflotte begonnen (die nach dem Sieg der Reaktion meistbietend verkauft wurde, weil niemand unter den deutschen Fürsten sie haben wollte).

Die Kritik am Kaiser

Der deutsche Flottenbau wurde seinerzeit in Englands öffentlicher Meinung zu einer konkreten militärischen Bedrohung und einem Kriegsgrund stilisiert, wobei Deutschland unterstellt wurde, nach Weltherrschaft zu streben.

Ein großer Teil der heutigen Geschichtsschreibung, insbesondere auch der deutschen, sieht im vom Kaiser geförderten deutschen Flottenbau einen bedeutenden Teil der Schuld des Kaisers am Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Hierbei folgen die Autoren den Argumenten der Sieger von 1918. Es wird die These vertreten, Deutschland habe Großbritannien mit dem Flottenbau jahrelang unnötigerweise provoziert, eine fatale Ausgangslage geschaffen und England faktisch zum Kriege herausgefordert.

Die Tatsachen

Der enorme gestiegene deutsche Welthandel schien eine größere deutsche Flotte zu erfordern. Eine starke Flotte versprach die ohnehin schon gewaltige Wirtschaftskraft Deutschlands noch weiter zu steigern. Dies war wohl der eigentliche Grund, weshalb England die deutsche Flottenrüstung kritisierte.

„Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser“ – selbstbewußte, aber keineswegs martialische zeitgenössische Postkarte zum Flottenausbau

Die Herausforderungen Deutschlands bestanden Ende des 19. Jahrhunderts in Wissenschaft und Technologie, Wirtschaftswachstum und Konkurrenz im Welthandel, speziell mit Großbritannien. In den meisten wirtschaftlichen Bereichen hatte Deutschland das industrielle Mutterland England inzwischen überholt. 1907 produzierte Deutschland die doppelte Menge an Stahl wie Großbritannien. Während der britische Welthandel zwischen 1887 und 1907 lediglich um 80 Prozent zunahm, konnte der deutsche ein Plus von 250 Prozent verzeichnen.

Im berühmten Daily-Telegraph-Interview 1908 betonte Wilhelm II., daß es eben dieser gestiegene Welthandel sei, der eine starke Flotte erfordere: „Deutschland ist ein junges und wachsendes Reich. Es hat einen weltweiten, sich rasch ausbreitenden Welthandel. […] Deutschland muß eine machtvolle Flotte haben, um seinen Handel und seine mannigfachen Interessen auch in den fernsten Meeren zu beschützen.

In England wurde die deutsche Flotte indes als konkrete militärische Bedrohung stilisiert, obwohl sie dies de facto nicht war (siehe unten).
Nimmt man den wirtschaftlichen Wettstreit beider Länder in Blick und das Potential, das eine starke deutsche Flotte dabei versprach, so fühlte man sich in England durch die Flotte in Wirklichkeit wohl wirtschaftlich bedroht. Dies freilich kann man Deutschland nicht anlasten.

Der Bau der deutschen Flotte folgte vor allem vier Motiven, die wohlbegründeten Notwendigkeiten entsprachen und zudem defensiven Charakter hatten:

1. Schutz der deutschen Fischerei
Deutschlands Fischer wurden regelmäßig – sogar in deutschen Hoheitsgewässern – von englischen Fischern in piratenhafter Manier auf offener See bedrängt und am Fischfang gehindert.
2. Schutz des deutschen Welthandels
England war durch seine Seemacht generell in der Lage, weltweit Handel zu dulden, zu behindern oder zu unterbinden.
3. Brechen möglicher Seeblockaden
Dieses Motiv fand seine Ursache in der britischen Tradition der Seeblockaden, mit denen schon häufig sowohl gegnerische als auch neutrale Länder von ihren Rohstoff- und Nahrungsmittelimporten abgeschnitten wurden. Die deutsche Flotte sollte daher so stark werden, daß sie eine sogenannte „enge Blockade“ der deutschen Nordseehäfen sprengen konnte.
4. Erreichung einer Bündnisfähigkeit mit Großbritannien
Dieses letzte, heute wohl überraschende Motiv, hatte politische Gründe: Für den Fall eines Konfliktes zwischen Großbritannien und anderen Seemächten erhoffte man sich, mit einer respektablen Flotte als Verbündeter attraktiv zu sein und zu einer Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe kommen zu können. Der Kaiser selbst sagte im Daily-Telegraph-Interview: „Es mag sogar sein, daß selbst England einmal froh sein wird, daß Deutschland eine Flotte hat, wenn sie beide zusammen gemeinsam auf derselben Seite in den großen Debatten der Zukunft ihre Stimmen erheben werden.“
Zudem gab es eine defensive Intention gegenüber Großbritannien, insofern man damit rechnete, daß England im Konfliktfall gegenüber einer ausreichend starken Seemacht Deutschland lieber Frieden halten oder verhandeln würde.

Die Größe der deutschen Flotte sollte nur 60 Prozent der Größe der englischen Flotte erreichen. Für einen Krieg gegen England war die Flotte weder gedacht, noch geeignet.

Wilhelm II. (links) mit den Admirälen Tirpitz (Mitte) und Holtzendorff (rechts) an Bord der Kaiseryacht „Hohenzollern“ im Jahre 1910

Das Konzept von Admiral von Tirpitz, Chef der deutschen Flottenrüstung, sah zur Erreichung der vier oben genannten Ziele die Endgröße einer deutschen Flotte bei lediglich 60 Prozent der britischen („Tirpitzscher Risikogedanke“ und „Risikoflotte“).
Im Gegensatz dazu lag Großbritanniens Flottenpolitik eine andere Philosophie zugrunde: Die eigene Marine müsse die Summe der beiden nächstgroßen Flotten um 10 Prozent übertreffen, damit man notfalls gegenüber zwei verbündeten Seemächten bestehen könne (was sich in dem im Jahre 1899 erlassenen „Naval Defence Act“ über den „Two Power Standard“ manifestierte).

Wollte Deutschland Großbritannien als Seemacht tatsächlich gefährlich werden, hätte es eine Flotte der Größe der britischen bauen und Stützpunkte im Atlantik haben müssen. Dies hatten der Deutsche Kaiser und die Marineleitung jedoch nie angestrebt.

Der Flottenbau Deutschlands hatte für die Eliten Großbritanniens Symbolkraft. Er war aber keine wirkliche, ernsthafte Konkurrenz für England.
Dies hatte nicht zuletzt geographische Gründe: Im Gegensatz zu Großbritannien hatte Deutschland weltweit kaum Auslandsstützpunkte; es saß strategisch in der Nordsee fest. Dieser Aus- und Zugang konnte jederzeit von England durch eine Blockade abgeschnitten werden. Zudem war die „Risikoflotte“ für einen Krieg um Englands Kolonialreich nicht konzipiert und dafür gänzlich ungeeignet.
All dies wußten auch Englands Marinestrategen; gleichwohl beharrten sie darauf, daß Deutschland mit seiner Flotte England unmittelbar bedrohe.

Auch alle anderen Großmächte betrieben Flottenrüstung – lange vor Deutschland, das erst als letzte Großmacht mit der Aufrüstung seiner Flotte begann.

Großbritannien hatte bereits 1889 und 1894 neue Flottenbauprogramme eingeleitet, Rußland 1890 und 1895, Japan 1896 und die USA 1897. Mit dem Baubeginn 1898 unternimmt Deutschland also beileibe nichts, was man zwangsläufig kriegstreibend nennen könnte.
Auch kann man schwerlich von einem deutsch-britischen Wettrüsten, sondern vielmehr von einem internationalen Wettrüsten sprechen, bei dem Deutschlands Rüstung stets im Kontext mit den Flotten zu betrachten ist, die sich vertraglich gegen das Deutsche Reich verbündet haben.
So verfügt zu Kriegsbeginn 1914 Deutschland über lediglich 45 Schlachtschiffe – gegenüber den 150 Schiffen der Flotten Englands, Frankreichs und Rußlands.

Marinebild von Willy Stöwer, dem bekanntesten „Marinemaler“ der Kaiserzeit (1905)

Im Ersten Weltkrieg selbst spielte die deutsche Flotte nur eine sehr untergeordnete Rolle. Es liegt folglich nahe, daß sie vorher von englischer Seite bewußt überbewertet wurde.

Die einzige Anwendung, die die deutsche Flotte im Ersten Weltkrieg fand, war die Skagerrak-Schlacht 1916, die ohne Einfluß auf den Verlauf des Krieges blieb; insbesondere änderte sie auch nichts an der britischen Seeblockade.

Auch in der unmittelbaren Vorgeschichte des Krieges („Julikrise“) spielte die Flotte selbst keine Rolle – es waren letztlich allein die Machtbündnisse selbst, die den Balkankrieg zum Weltkrieg eskalieren ließen:
Das Risiko einer Beherrschung Westeuropas durch Deutschland mit allen möglichen, vor allem wirtschaftlichen Konsequenzen hätte Großbritannien niemals eingehen mögen, allerdings hat keiner der wirtschaftlichen oder kolonialpolitischen Interessensgegensätze trotz der scharfen beiderseitigen Propaganda in der Vorkriegszeit einen Krieg verursacht, sondern er wurde am Ende wesentlich durch die beiderseitigen Bündnisverpflichtungen ausgelöst.
(Andreas Krause: Scapa Flow. Die Selbstversenkung der wilhelminischen Flotte. Berlin 1999, S. 40)

„Nicht die deutsche Weltpolitik stand am Anfang der in den Krieg mündenden diplomatischen Verwicklungen, sondern weltpolitische Verschiebungen außerhalb des Reiches, auf die Berlin reagieren musste und immer weniger konnte.“ (Dominik Geppert, FAZ vom 13.02.2012, S. 6)

Auch Wilhelm II.-Biograph Prof. Clark bestätigte diese Einschätzung, wenn er schrieb: „Weder der ziellose Imperialismus deutscher 'Weltpolitik', noch der Bau von Schiffen waren schuld am Ausbruch des Krieges im Jahr 1914.“ (Christopher Clark: Wilhelm II. München 2008, S. 337)

„Nicht die Entscheidung Berlins, die deutsche Kriegsflotte auszubauen, habe die Entente-Mächte Russland, Frankreich und Großbritannien gegen Deutschland und Österreich-Ungarn zusammengeschweißt. Sorgen habe vor allem die schnelle Industrialisierung Deutschlands und die Eroberung neuer Märkte bereitet.”

— Aus der Besprechung des Buches „Die Schlafwandler“ von Prof. Christopher Clark bei focus online, Oktober 2013