Der Kaiser in der Kritik:

Die sogenannte Hunnenrede (1900)

Da es schon immer schwerfiel, Wilhelm II. eine konkrete Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs nachzuweisen, war man bereits früh auf den Trick verfallen, so etwas wie eine strukturelle bzw. charakterliche oder auch mentale Disposition zu konstruieren, die für den Kriegsausbruch verantwortlich sein sollte. Das konnte der gelähmte Arm des Kaisers sein, den er durch Großmannssucht kompensieren mußte oder auch seine Vorliebe für Uniformen, die Flottenpolitik oder Bismarcks Entlassung. Zu den in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchenden Vorwürfen an Wilhelm II. gehört die sogenannte Hunnenrede. Wie bei einigen anderen Ansprachen des Kaisers versucht man aus ihr bis heute so etwas wie einen Zivilisationsbruch abzuleiten. Der Grundgedanke lautet: Während alle Welt sich diplomatisch gibt, fällt der Kaiser ins tiefste Mittelalter zurück und rasselt mit dem Säbel, ruft zum Völkermord auf.

Die historischen Hintergründe
Wilhelm II. bei der sog. „Hunnenrede“

Die Publikations- und Wirkungsgeschichte der Hunnenrede ist allerdings einigermaßen verzwickt. Sicher ist nur, daß Wilhelm II. am 27. Juli 1900 kurz nach 13 Uhr in Bremerhaven die zur Bekämpfung des Boxeraufstandes nach China abreisenden Truppen mit einer Ansprache verabschiedete. Es lagen die Truppentransporter „Batavia“, „Dresden“ und „Halle“ bereit, um die Freiwilligen zu verschiffen. Neben den angetretenen Soldaten hatte sich eine Vielzahl Schaulustiger eingefunden. Darüber, was Wilhelm dort gesagt hat, gibt es verschiedene Auffassungen. Die offizielle Version, die sich auch in den offiziösen Redensammlungen des Kaisers (u.a. die von Johannes Penzler, Stuttgart 1904) findet, lautet folgendermaßen:

Die offizielle Version der „Hunnenrede“ im Wortlaut

„Große überseeische Aufgaben sind es, die dem neu entstandenen Deutschen Reiche zugefallen sind, Aufgaben weit größer, als viele Meiner Landsleute es erwartet haben. Das Deutsche Reich hat seinem Charakter nach die Verpflichtung, seinen Bürgern, wofern diese im Ausland bedrängt werden, beizustehen. Die Aufgaben, welche das alte Römische Reich deutscher Nation nicht hat lösen können, ist das neue Deutsche Reich in der Lage zu lösen. Das Mittel, das ihm dies ermöglicht, ist unser Heer.

In dreißigjähriger treuer Friedensarbeit ist es herangebildet worden nach den Grundsätzen Meines verewigten Großvaters. Auch ihr habt eure Ausbildung nach diesen Grundsätzen erhalten und sollt nun vor dem Feinde die Probe ablegen, ob sie sich bei euch bewährt haben. Eure Kameraden von der Marine haben diese Probe bereits bestanden, sie haben euch gezeigt, daß die Grundsätze unserer Ausbildung gute sind, und Ich bin stolz auf das Lob auch aus Munde auswärtiger Führer, das eure Kameraden draußen sich erworben haben. An euch ist es, es ihnen gleich zu tun.

Eine große Aufgabe harrt eurer: Ihr sollt das schwere Unrecht, das geschehen ist, sühnen. Die Chinesen haben das Völkerrecht umgeworfen, sie haben in einer in der Weltgeschichte nicht erhörten Weise der Heiligkeit des Gesandten, den Pflichten des Gastrechts Hohn gesprochen. Es ist das um so empörender, als dies Verbrechen begangen worden ist von einer Nation, die auf ihre uralte Kultur stolz ist. Bewährt die alte preußische Tüchtigkeit, zeigt euch als Christen im freundlichen Ertragen von Leiden, möge Ehre und Ruhm euren Fahnen und Waffen folgen, gebt an Manneszucht und Disziplin aller Welt ein Beispiel.

Ihr wißt es wohl, ihr sollt fechten gegen einen verschlagenen, tapferen, gut bewaffneten, grausamen Feind. Kommt ihr an ihn, so wißt: Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht. Führt eure Waffen so, daß auf tausend Jahre hinaus kein Chinese mehr es wagt, einen Deutschen scheel anzusehen. Wahrt Manneszucht. Der Segen Gottes sei mit euch, die Gebete eines ganzen Volkes, Meine Wünsche begleiten euch, jeden einzelnen. Öffnet der Kultur den Weg ein für allemal! Nun könnt ihr reisen! Adieu Kameraden!

Es fällt sofort auf, daß in dieser Rede die Hunnen mit keinem Wort erwähnt werden, so daß sich die Frage stellt, warum sie als „Hunnenrede“ in die Geschichte eingegangen ist. Die Lösung verbirgt sich in einer anderen Version der Rede, in der eben jene Passage vorkommt. Bernd Sösemann (Historische Zeitschrift, Bd. 222 (1976), Heft 2) hat die Geschichte der Rede nachgezeichnet und folgende „zitierfähige, vollständige Fassung“ veröffentlicht, die er aus den Redeversionen der „Lokalzeitungen Bremens (Weser-Zeitung) und Wilhelmshavens (Wilhelmshavener Tageblatt) vom 29. Juli“ rekonstruierte:

Die inoffizielle Version der „Hunnenrede“ im Wortlaut

„Zum ersten Mal, seitdem das deutsche Reich wiedererstanden ist, tritt an Sie eine große überseeische Aufgaben heran. Dieselben sind früher und in größerer Ausdehnung an uns herangetreten, als die meisten meiner Landsleute erwartet haben. Sie sind die Folgen davon, daß das deutsche Reich wieder erstanden ist und damit die Verpflichtung hat, für seine im Auslande lebenden Brüder einzustehen, im Moment der Gefahr. Mithin sind nun die alten Aufgaben, die das alte römische Reich nicht hat lösen können, von neuem hervorgetreten, und das neue deutsche Reich ist in der Lage, sie zu lösen, weil es ein Gefüge bekommen hat, das ihm die Möglichkeit dazu giebt. Durch unser Heer, in dreißigjähriger angestrengter, harter Friedensarbeit, sind viele hunderttausende von Deutschen zum Kriegsdienste herangebildet worden. Ausgebildet nach den Grundsätzen Meines verewigten großen Großvaters, bewährt in drei ruhmvollen Kriegen, sollt ihr nunmehr auch in der Fremde drüben [Zeugnis] ablegen, ob die Richtung, in der wir uns in militärischer Beziehung bewegt haben, die rechte sei. Eure Kameraden von der Marine haben uns schon gezeigt, daß die Ausbildung und Grundsätze, nach denen wir unsere militärischen Streitkräfte ausgebildet haben, die richtigen sind und an Euch wird es sein, es ihnen gleich zu thun. Nicht zum geringsten erfüllt es uns alle mit Stolz, daß gerade aus dem Munde auswärtiger Führer das höchste Lob unseren Streitern zuerkannt wurde.

Die Aufgabe, zu der Ich Euch hinaussende, ist eine große. Ihr sollt schweres Unrecht sühnen. Ein Volk, das, wie die Chinesen, es wagt, tausendjährige alte Völkerrechte umzuwerfen und der Heiligkeit der Gesandten und der Heiligkeit des Gastrechts in abscheulicher Weise Hohn spricht, das ist ein Vorfall, wie er in der Weltgeschichte noch nicht vorgekommen ist und dazu von einem Volke, welches stolz ist auf seine vieltausendjährige Cultur. Aber Ihr könnt daraus ersehen, wohin eine Cultur kommt, die nicht auf dem Christentum aufgebaut ist. Jede heidnische Cultur, mag sie noch so schön und gut sein, geht zu Grunde, wenn große Aufgaben an sie herantreten.

So sende ich Euch aus, daß Ihr bewähren sollt einmal Eure alte deutsche Tüchtigkeit, zum zweiten die Hingebung, die Tapferkeit und das freudige Ertragen jedweden Ungemachs und zum dritten Ehre und Ruhm unserer Waffen und unserer Fahnen. Ihr sollt Beispiele abgeben von der Manneszucht und Disciplin, aber auch der Überwindung und Selbstbeherrschung. Ihr sollt fechten gegen eine gut bewaffnete Macht, aber Ihr sollt auch rächen, nicht nur den Tod des Gesandten, sondern auch vieler Deutscher und Europäer.

Kommt Ihr vor den Feind, so wird er geschlagen, Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht. Wer Euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.

Ihr werdet mit Uebermacht zu kämpfen haben, das sind wir ja gewöhnt, unsere Kriegsgeschichte beweist es. Ihr habt es gelernt aus der Geschichte des Großen Kurfürsten und aus Eurer Regimentsgeschichte. Der Segen des Herrn sei mit Euch, die Gedanken eines ganzen Volkes begleiten Euch, geleiten Euch auf allen Euren Wegen.

Meine besten Wünsche für Euch, für das Glück Eurer Waffen werden Euch folgen! Gebt, wo es auch sei, Beweise Euren Muthes, und der Segen Gottes wird sich an Eure Fahnen heften und es Euch geben, daß das Christentum in jenem Lande seinen Eingang finde. Dafür steht Ihr Mir mit Eurem Fahneneid, und nun glückliche Reise. Adieu, Kameraden.

Es ist offensichtlich, daß es zwischen beiden Versionen gewaltige Unterschiede gibt. Das betrifft nicht nur die ganze Hunnenpassage, die zweite Version legt zudem nahe, daß der Kaiser zum Bruch des Kriegsvölkerrechts aufgerufen hat, wenn er davon spricht, daß kein Pardon gegeben werden solle. In der ersten Version war die Wendung so zu verstehen, daß der Gegner kein Pardon geben würde und man sich dementsprechend wappnen solle. Nun ist die Überlieferungsfrage das zentrale Problem bei der Beurteilung dieser Rede. Es gibt noch andere ausführliche Fassungen der Rede, die zwar auch die Hunnenpassage enthalten, aber mehr Wert auf den christlich-missionarischen Aspekt legen. So in der Nordwestdeutschen Zeitung (Bremerhaven) vom 28. Juli 1900. Die Passage unmittelbar vor den Hunnen lautet dort:

„Ihr sollt fechten mit einem Euch ebenbürtigen, tapferen, verschlagenen Feind, gut bewaffnet und gut ausgerüstet. Aber Ihr sollt auch rächen den Tod unseres Gesandten und so vieler, nicht nur Landsleute, auch anderer Europäer! Kommt Ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer Euch in die Hände fällt, sei Euch verfallen.

Das Ende der Rede wird so wiedergegeben:

„Und Gottes Segen möge an Eure Fahnen sich heften und dieser Krieg den Segen bringen, daß das Christentum in jenem Lande seinen Einzug hält, damit solch' traurige Fälle nicht mehr vorkommen! Dafür steht Ihr Mir mit Eurem Fahneneid!

Was hat der Kaiser wirklich gesagt?

Die Verwirrung über die Versionsgeschichte der Rede ist in den Unterschieden zwischen dem gesprochenen Wort des Kaisers und der zunächst von offizieller Seite verbreiteten Version zu suchen. Der Kaiser, das ist bekannt, hielt diese Ansprachen meistens frei und soll dazu geneigt haben, sich an der eigenen Rede zu berauschen und dabei verbal zu übertreiben. Angeblich soll das in Bremerhaven der Fall gewesen sein, so daß Bülow, damals noch Staatssekretär des Äußeren, und Reichskanzler Fürst zu Hohenlohe noch während der Rede beschlossen, die anwesenden Journalisten zu verpflichten, die Rede erst zu veröffentlichen, wenn Bülow eine redigierte Fassung fertiggestellt hätte. Daran hielten sich die meisten, so daß zunächst nur zwei Versionen verbreitet wurden. Die erste enthielt lediglich zwei Zitate des Kaisers, die zweite die wörtliche Rede in der oben zuerst angegeben Version. Die inoffizielle Langversion mit der Hunnenpassage geht vermutlich auf einen Mitarbeiter des Wolffschen Telegraphenbureaus zurück, der die Rede mitstenographiert haben soll. Verbreitung fand diese Version vor allem in norddeutschen Lokalzeitungen und der sozialdemokratischen Presse.

Problematisch an all diesen Rekonstruktionen des Hergangs ist, daß sie sich im Wesentlichen auf Erinnerungen damals Beteiligter stützen. Diese Erinnerungen sind zumeist nach Ende des Kaiserreichs geschrieben und veröffentlicht worden, so daß eine Tendenz zur Selbstexkulpation nicht unwahrscheinlich und im Falle Bülow vielfach nachgewiesen ist. Daß Bülow in seinen Erinnerungen oft nicht die Wahrheit sagt, sollte bekannt sein, so daß seine Glaubwürdigkeit auch in diesem Fall angezweifelt werden darf. Die oft kolportierten Berichte, wonach der Kaiser dem Journalisten sein Manuskript gegeben habe oder er sich nach Erscheinen der entschärften Version bei Bülow beschwert habe, daß die schönsten Passagen fehlen würden, können getrost als Fiktion betrachtet werden.

Allerdings ändert das nichts an der Frage, ob der Kaiser diese Worte wirklich gebraucht hat und wenn ja, wie er sie gemeint hat und ob sie geeignet sind, die später daraus abgeleiteten Anschuldigungen zu stützen. Hin und wieder ist zu lesen, daß die englische Presse die Passage erfunden haben soll, um anti-deutsche Hetze zu betreiben. Das dürfte in diesem Fall ausgeschlossen sein. Zum einen entsprach ein konsequentes Vorgehen gegen Kolonialaufstände durchaus der englischen Praxis und fiel damit überhaupt nicht aus dem Rahmen des damals Üblichen (nur daß man es nicht so deutlich sagte), zum anderen ist der Hunnenvergleich so abwegig, daß man wohl kaum darauf hoffen konnte, damit durchzukommen.

Interpretationsversuche

Der Vergleich der Deutschen mit den Hunnen ist in mehrfacher Hinsicht absurd. Die wenigen Male, als die Hunnen in der deutschen Geschichte auftauchten, waren sie Feinde und wurden durchaus als entgegengesetztes Prinzip verstanden. Das war beim sogenannten Mongolensturm und der Schlacht bei Liegnitz im Jahre 1241 nicht anders als im Nibelungenlied und Attilas Feldzügen. Rein physiognomisch und vom Herkunftsgebiet liegt die Assoziation der Hunnen mit den Chinesen nahe (auch wenn diese wissenschaftlich falsch ist und beide miteinander Kriege führten). Die gelbe Gefahr, die Hunnen, waren durchaus ein gemeineuropäisches Feindbild.

Die Glaubwürdigkeit der Langversion leitet sich aus den unmittelbaren Reaktionen der Soldaten ab, die nach der Rede die Pardon-Wendung auf die Verladewaggons geschrieben haben sollen. Christopher Clark schreibt in seiner Wilhelm-Biographie dementsprechend: „Die Widersprüche und logischen Unstimmigkeiten im Text lassen vermuten, daß Wilhelm womöglich, in gewohnter Manier, von einem harmloseren, vorbereiteten Entwurf abwich und Aussagen über ein Thema improvisierte, das ihn in den letzten Wochen intensiv beschäftigt hatte: nämlich die Brutalität und Skrupellosigkeit, mit der die Boxer über die europäischen Gesandtschaften in China hergefallen waren – was eine Woge haarsträubender Horrorgeschichten in der europäische Presse ausgelöst hatte –, und die Notwendigkeit einer exemplarischen Strafaktion.“ Clark geht sogar so weit zu fragen, ob dem Kaiser nicht die Greueltaten der Engländer 1898 im Sudan bekannt gewesen seien, wo die Briten absichtlich verwundete Gefangene töteten, und er darin eine Legitimation für seine verbale Schärfe sah.

Daß man aus der Langversion auch die falschen Schlüsse ziehen kann, zeigt John Röhl, wenn er die Rede im dritten Band seiner Wilhelm II.-Biographie wie folgt paraphrasiert: „Im Reich der Mitte sollten sich die deutschen Soldaten benehmen ‚wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel‘, befahl der Oberste Kriegsherr in Anrufung der ‚alten deutschen Tüchtigkeit‘. Der ‚Name Deutschland‘ müsse in China in einer solchen Weise bekannt werden, ‚daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen. […] Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht. Wer Euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand.‘“ Diese Collage zeigt deutlich die Herangehensweise von Röhl: Durch die falsche Reihenfolge der Zitate wird der Eindruck erweckt, daß Wilhelm von seinen Soldaten ein Vorgehen gegen die Boxer in Manier der Hunnen fordert. Das liegt selbst dann nicht in der Intention des Kaisers, wenn man davon ausgeht, daß Wilhelm Deutsche und Hunnen an dieser Stelle in Beziehung setzt. Ihm geht es um den Ruf und nicht um Mord, wie sich den zahlreichen Bezügen zum Christentum entnehmen läßt.

Merkwürdig ist auch, daß Röhl von einer „verheerenden Wirkung […] auf die öffentliche Meinung im In- und Ausland“ spricht, ohne dafür Belege zu nennen. Sösemann, dem man sicher keine Kaisernähe unterstellen kann, kam bei seiner immer noch zitierten Untersuchung zu einem ganz anderen Ergebnis. In der näheren Umgebung des Kaisers kam die Rede demnach gut an, der Reichskanzler nannte sie „zündend“. In England und Frankreich gab es keinen Widerspruch. Der französische Außenminister erklärte sogar, daß die Ansprache „in ganz Frankreich den besten Eindruck hervorgerufen“ hätte. In der deutschen Presse und im Reichstag wurde die Rede kontrovers diskutiert, ohne daß sich dazu eine einhellige Meinung herauskristallisiert hätte. Grundsätzlich läßt sich sagen, daß die Gegner des Kaisers die Rede wörtlich nahmen, während seine Anhänger und auch die neutralen Beobachter gewisse verbale Übertreibungen nicht überbewerten wollten. Was Röhl damit suggerieren möchte, ist folgendes: Die Deutschen hätten, angestiftet vom Kaiser, in China ihren ersten Völkermord begangen und sich damit aus dem Kreis der zivilisierten Völker verabschiedet, so daß der Erste Weltkrieg wie die logische Konsequenz daraus erscheinen muß.

Über die Greueltaten der deutschen Soldaten in China gibt es unterschiedliche Auffassungen. Die sogenannten „Hunnenbriefe“, in denen Soldaten von Massakern berichten, sind von den Sozialdemokraten weidlich ausgenutzt und verbreitet worden. Es wird diese Greueltaten sicherlich gegeben haben. Den Kaiser dafür verantwortlich zu machen, ist indes absurd, da er in allen Reden im Zusammenhang mit der Verabschiedung von Truppen nach China auf die Wahrung der „Manneszucht“ gedrängt hat (so auch am 2. Juli in Wilhelmshaven, am 6. Juli in Kiel und am 2. August in Bremerhaven). Hinter diesem heute unverständlichen Wort verbirgt sich die Forderung an die Soldaten, männlich und ritterlich zu kämpfen und sich gerade nicht zu Exzessen an der Zivilbevölkerung verleiten zu lassen. […] schonen sie die feindliche Bevölkerung“, heißt es einmal ausdrücklich. Das war in der damaligen Zeit bei der Bekämpfung von Kolonialaufständen keine Selbstverständlichkeit, wie nicht zuletzt das Vorgehen der Briten gegen die Buren in Südafrika gezeigt hat. Hinzu kommt, daß die Brutalität der chinesischen Aufständischen, der sogenannten Boxer, nicht nur auf Horrormeldungen beruhte. Ca. 30.000 chinesische Christen wurden im Zuge des Boxer-Aufstandes ermordet, Männer, Frauen und Kinder. Thomas Nipperdey hat in seiner Deutschen Geschichte daher für den Kolonialismus im Zeitalter des Imperialismus festgestellt: „Die Deutschen unterscheiden sich da in nichts, in gar nichts von anderen, nicht positiv, nicht negativ […].“

Alliierte Kriegspropaganda

Spätestens mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als die alliierte Propaganda nach Stereotypen suchte, um ihre eigene Bevölkerung für den Krieg mobilisieren zu können (vgl. Hermann Joseph Hiery: Angst und Krieg. Amerikas Kreuzzug gegen die Hunnen, in: Franz Bosbach (Hrsg.): Angst und Politik in der europäischen Geschichte, Dettelbach 2000), wurde diese gesamteuropäische Übereinstimmung geleugnet. In diesem Zusammenhang spielt die Hunnenrede eine unrühmliche Rolle. Der linksliberale Schriftsteller Emil Ludwig hat die Wirkung in seiner Abrechnungsschrift mit dem Kaiser (1925) dargestellt:

„Die Wirkung dauerte zwanzig Jahre. Durch nichts war ein deutscher Barbarengeist von seinen Gegnern schon im Frieden leichter zu beweisen, als durch diese Rede seines Kaisers, und als im Weltkrieg einem Volk nach dem andern die Überzeugung suggeriert wurde, mitten in Europa wohnten 60 Millionen Hunnen, die den neuen Attila als ihren König verehrten, da verkannte man nicht bloß alle guten Instinkte des deutschen Volkes, auch noch die schlechten des Kaisers und beleidigte nach tausend Jahren durch den Vergleich mit Wilhelm dem Zweiten jenen todesmutigen, dämonisch wilden Räuberhauptmann mit der Krone. Im doppelten Fehlgriff dieses Vergleiches wurde das doppelte Mißverständnis der Welt über Deutschland deutlich: ein großes, ruhiges Volk, das einem kleinen, prahlenden König sich in verächtlichem Gehorsam untertan fühlte, mußte nun für die klirrenden Worte seines eitlen Herrn büßen, der es zu Hunnen nur erniedrigt hatte, um den Attila zu spielen.“

Ludwig versucht hier, einen Gegensatz zwischen dem Kaiser und dem deutschen Volk zu suggerieren, der sich an der sogenannten Hunnenrede gerade nicht festmachen läßt. Im Gegenteil: Ludwig macht sich mit dieser Auffassung in einer Art und Weise zum Erfüllungsgehilfen der alliierten Propaganda, wie sie vor allem aus der Zeit nach 1945 bekannt ist. Er übernimmt die Denkweise des Gegners, ohne nach den darin versteckten Intentionen zu fragen.

Die englische und US-Propaganda im Ersten Weltkrieg stilisierte die Deutschen als „Hunnen“-Bestien.

Vor allem die Briten und Amerikaner nahmen das Schlagwort von den „Hunnen“ dankbar auf und waren damit offensichtlich nicht nur in den eigenen Reihen erfolgreich, wie die Beispiele Ludwig und Röhl bis heute zeigen. Es wurde mit der Rede von den Hunnen unterstellt, daß der Kampf gegen Deutschland ein Kampf gegen die Barbarei sei, der nicht im klassischen Sinne (ohne Diskriminierung des Feindes) geführt werden könne. Damit ließ sich nicht nur die Bevölkerung mobilisieren, sondern auch die eigenen Kriegsziele verschleiern. Hinzu kommt, daß man mit dem „Hunnen“ an viel ältere Vorbehalte gegen das deutsche Volk, das von Westen aus gesehen im Osten (und damit fast schon in Asien) hauste, merkwürdige Riten pflegte und sich durch die Pickelhaube auch äußerlich unterschied, anknüpfen konnte. Die absichtlich mißverstandene Rede des Kaisers schien diese Vorbehalte zu legitimieren.

Heute wird oft vergessen, daß diese alliierte Greuelpropaganda jeglicher Grundlage entbehrte. Weder wurden belgischen Kindern die Hände abgehackt, noch französische Frauen geschändet. Der Auslöser für die Titulierung der Deutschen als Hunnen war die Zerstörung der Bibliothek in der belgischen Universitätsstadt Löwen (25. August 1914), wobei die näheren Umstände bis heute nicht restlos aufgeklärt sind. Für beide Seiten stand die Schuld des anderen damals fest. In Deutschland unterschrieben 93 Intellektuelle und Personen des kulturellen Lebens einen „Aufruf an die Kulturwelt“ (4. Oktober 1914), in dem die Verantwortung für Löwen zurückgewiesen wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die alliierte Propaganda bereits auf das Hunnenfeindbild festgelegt (The Times vom 29. August 1914), so daß der deutsche Aufruf wie eine infame Verdrehung der Tatsachen erscheinen mußte. Was damals klar als Feindpropaganda zu identifizieren war, hat sich in der Folge, bis heute, als Anklagepunkt gegen das Kaiserreich erhalten. Gewandelt haben sich nur die Ankläger, vom Kriegsgegner zu den Nachgeborenen.