Der Untertan –

weder typisch deutsch noch typisch wilhelminisch

von Thorsten Hinz

Keine zweite Figur der deutschen Literatur wirkt so ausschließlich negativ und unsympathisch wie Diederich Heßling. Bereits der Name ist eindeutig:
Er assoziiert „häßlich“, was negative Bedeutungselemente wie „abstoßend“ und ursprünglich auch „hassenswert“ einschließt. Tatsächlich ist der Titelfigur aus Heinrich Manns Roman „Der Untertan“ jede edle Neigung fremd.

Diederich buckelt nach oben und tritt nach unten. Er wirkt verzagt und ängstlich, solange es um seine Sache schlecht steht, und trumpft umso gnadenloser auf, sobald er sich auf der Seite des Stärkeren weiß. Er liebt die markigen Worte, für die er mit Taten niemals einsteht. Sein geducktes Ich richtet er am hohlen Idealismus auf, in den die Macht sich kleidet in diesem Fall am Nationalismus. Minderwertigkeitskomplexe und Größenwahn gehen Hand in Hand. Ehre, Treue und Anstand, die er gern im Mund führt, verkehren sich bei ihm in Verrat und Denunziation. Heßling ist das glatte Dementi des selbstbewußten Bürgers und verantwortungsvollen Citoyens. Er ist und bleibt für alle Zeiten: „Der Untertan“!

Der Roman, den Heinrich Mann am Vorabend des Ersten Weltkriegs verfaßt hat, ist kurzweilig, witzig und enthält eine Reihe scharfer Beobachtungen. Er variiert und karikiert den stets ein wenig umständlichen deutschen Bildungs- und Entwicklungsroman. In diesem reift der Knabe zum Manne, indem er in die Welt zieht, sie sich aneignet, sie verändert und gleichzeitig intellektuell und moralisch an ihr wächst. Bei Diederich kehrt die Entwicklung sich um. Die früh empfangenen, negativen Prägungen wachsen sich ins Monströse aus und widerspiegeln angeblich zumindest in der Intention des Schriftstellers die Wirklichkeit des preußisch-deutschen Kaiserreichs unter Wilhelm II.

Heßlings Geschichte beginnt als die eines „weichen Kindes, das am liebsten träumte (und) sich vor allem fürchtete“. Am meisten fürchtet er sich vor dem strengen Vater, einem Papierfabrikanten, und vor der noch strengeren Schule, die zu widerspruchsfreiem Gehorsam erzieht. Seine Situation ähnelt der des Hanno Buddenbrook, des letzten Familienerben aus dem Romanklassiker von Heinrich Manns jüngerem Bruder Thomas (freilich spielt dieser lange vor dem Wilhelminismus). Hanno flüchtet sich in Musik, Krankheit und schließlich in den Tod. Diederich dagegen verarbeitet die Angst vor der strafenden Autorität, indem er sie akzeptiert. „Denn Diederich war so beschaffen, daß die Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglückte, daß die Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzte man Katheder und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock.“ Die empfangene Gewalt gibt er an Schwächere weiter: zuerst an die jüngeren Schwestern, die nach seinem Diktat schreiben und dabei künstlich Fehler machen müssen, für die er sie anschließend bestraft.

Die sado-masochistische Disposition verfestigt sich während des Studiums in Berlin: Der verschüchterte Kleinstädter findet hier Anschluß bei einer schlagenden Verbindung und macht sich unter Zittern und Zagen die harschen Umgangsformen zu eigen. In der Armee leidet er am Drill und schafft es dank guter Beziehungen, vom Wehrdienst freigestellt zu werden. Was nach gesellschaftlicher Konvention den Tatbestand der Drückebergerei erfüllt, wird medizinisch begründet. Außerdem bekundet Diederich bei jeder Gelegenheit, „am liebsten ganz dabeigeblieben“ zu sein. Heuchelei ist der Preis für gesellschaftliche Anerkennung und Aufstieg. Die Demütigung, die damit verbunden ist, läßt er die Tochter eines Geschäftspartners entgelten. Nachdem er die verträumte Agnes Göppel verführt hat, weist er sie mit der Begründung zurück, daß sie nicht mehr ihre „Reinheit“ in die Ehe einbringe. In der Heimatstadt Netzig befördert er seine geschäftlichen Interessen, indem er sich der Staatsmacht als eifernder Nationalist und Monarchist empfiehlt. Absichtsvoll provoziert er einen wirtschaftlichen Konkurrenten, bis dieser sich zu Äußerungen hinreißen läßt, die als Majestätsbeleidigung ausgelegt werden können und ihn ins Gefängnis bringen.

Der Roman gleicht einer Perlenkette aus karikaturistisch zugespitzten Szenen, die Diederichs Prinzip des Tretens und Getretenwerdens in immer neuen Variationen und mit sich steigernder Intensität durchspielen. Das sorgt für Heiterkeit beim Leser, führt aber auch dazu, daß der Text bald thesenartig, effekthascherisch und auf Dauer allzu simpel wirkt. Der Roman wäre kaum mehr als die überlange Geschichte eines Haustyrannen, wenn Heinrich Mann seine Figur nicht als bürgerliche Entsprechung zu Kaiser Wilhelm II. konzipiert und mit dessen sprachlichen, gestischen und physiognomischen Eigenheiten ausgestattet hätte. Dadurch erhält das Buch eine politische Dimension, die seinen anhaltenden Gebrauchswert bestimmt.

Diederich fühlt sich als kleines alter ego des Kaisers und als dessen Staathalter vor Ort. Als Wilhelm durch das Brandenburger Tor reitet, befindet sein Untertan sich in der jubelnden Menschenmenge. Der Anblick des Monarchen verschafft ihm ein quasi-erotisches Erlebnis, durch das sich der Identitätstransfers vollendet und der Kaiser endgültig zu seiner inneren Instanz wird. „Auf dem Pferd dort, unter dem Tor der siegreichen Einmärsche und mit Zügen steinern und blitzend, ritt die Macht! Die Macht, die über uns hinweggeht und deren Hufe wir küssen! […] Gegen die wir nichts können, weil wir sie lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben! Ein Atom sind wir von ihr, ein verschwindendes Molekül von etwas, das sie ausgespuckt hat! Jeder einzelne ein Nichts, steigern wir in gegliederten Massen, als Neuteutonen, als Militär, Beamtentum, Kirche und Wissenschaft, als Wirtschaftsorganisationen und Machtverbände kegelförmig hinan, bis dort oben, wo sie selbst steht, steinernd und blitzend!“ Diese belehrende Autoren-Suada wird – psychologisch völlig unglaubwürdig – als innerer Monolog Diederichs dargeboten und bietet ein Beispiel für die künstlerische Schwäche des Buches.

Die Parallelführung von Diederich und Wilhelm besitzt fraglos satirischen Reiz. Wenn Heßling seinen zwei Dutzend Arbeitern und Angestellten verkündet, er habe „das Steuer selbst in die Hand genommen“, er wolle sie „herrlichen Tagen“ entgegenführen, seine Gegner aber „zerschmettern“, wenn er über den vom Vater übernommenen Prokuristen redet wie der Kaiser angeblich über Bismarck: „Eine Weile lasse ich den Alten noch verschnaufen, dann wird er ausgeschifft“, empfindet der Leser den Größenwahn des Kleintyrannen und zugleich die Rhetorik der Verantwortungslosigkeit und des übersteigerten Pathos, die der Kaiser bisweilen pflegte.

Doch nicht ist falscher als der Anspruch des Autors und die Annahme des konditionierten Lesers, daß Wesen und Wirklichkeit des deutschen Kaiserreichs damit gänzlich erfaßt seien, wie wir weiter unten sehen werden.

Die bekannte „Untertan“-Verfilmung von 1951 prägte die bildliche Vorstellung unzähliger Schülergenerationen von der Kaiserzeit

Die Rezeption des „Untertan“ als repräsentativer Zeit- und Gesellschaftsroman der wilhelminischen Ära setzte gleich nach der Novemberrevolution 1918 ein, als das Buch erstmals in großer Auflage in Deutschland erschien. Heinrich Mann hatte es bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendet, doch im August 1914 wurde der Vorabdruck in einer Zeitschrift gestoppt. Ausgerechnet im zaristischen Rußland durfte 1915 die erste vollständige Ausgabe veröffentlicht werden. Während Thomas Mann 1918 mit den „Bekenntnissen eines Unpolitischen“ einen schwer verdaulichen Großessay vorlegte, der mit seiner Verteidigung von Monarchie, Romantik und machtgeschützter Innerlichkeit aus der Zeit fiel, wurde der „Untertan“ zum Buch der Stunde. Kurt Tucholsky gab in der „Weltbühne“ die bis heute offiziell gültige Lesart vor: „Dieses Buch Heinrich Manns, heute, gottseidank, in aller Hände, ist das Herbarium des deutschen Mannes. Hier ist er ganz: in seiner Sucht, zu befehlen und zu gehorchen, in seiner Roheit und in seiner Religiosität, in seiner Erfolganbeterei und in seiner namenlosen Zivilfeigheit. Leider: es ist der deutsche Mann schlechthin gewesen; wer anders war, hatte nichts zu sagen, hieß Vaterlandsverräter und war kaiserlicherseits angewiesen, den Staub des Landes von den Pantoffeln zu schütteln.“ Und gegen Ende: „Und das Buch ›Der Untertan‹ […] zeigt uns wieder, dass wir auf dem rechten Wege sind, und bestätigt uns, dass Liebe, die nach außen in Haß umschlagen kann, das einzige ist, um in diesem Volke durchzudringen, um diesem Volke zu helfen, um endlich, endlich einmal die Farben Schwarz-Weiß-Rot, in die sie sich verrannt haben wie die Stiere, von dem Deutschland abzutrennen, das wir lieben, und das die Besten aller Alter geliebt haben.“

Heinrich Mann hatte also den Nerv der neuen Zeit getroffen. Und was war das für eine Zeit! Der Krieg war verloren, die Revolution hatte die Monarchie weggefegt. Der Kaiser hatte sich über die Grenze nach Holland begeben und die heldische Rhetorik augenscheinlich selbst widerlegt. Wenn Kriege mit Niederlagen enden, wenn Throne bersten, Reiche, Weltbilder, Traditionsbestände in sich zusammenfallen, dann begeben die Zornigen und Enttäuschten sich auf die Jagd nach Sündenböcken! Auch Tucholsky war erst kriegsbegeistert und kaisertreu in die Schlacht gezogen und dann enttäuscht zurückgekehrt. Heinrich Mann zeigte ihm und den anderen, wer schuld war an der Katastrophe und verlieh dem Zusammenbruch einen Sinn! Dieser Sinn aber, so wurde nach 1945 der Faden weitergesponnen, sei in der Weimarer Republik nicht hinreichend verstanden worden, weshalb der Diederich-Heßling-Typ den Kaiser überdauern, ins Braunhemd schlüpfen und Deutschland in eine neue Katastrophe stürzen konnte. Das genau ist die Quintessenz von Wolfgang Staudtes bekannter „Untertan“-Verfilmung aus dem Jahr 1951.

In der DDR war das Buch Pflichtlektüre an den Schulen. Im kanonisierten Romanlexikon (Ausgabe 1974) heißt es, die Figur Heßlings widerspiegele „die soziale Physiognomie seiner ganzen Klasse“ – des Bürgertums –, und die Vorgänge in der Kleinstadt Netzig seien ein „Muster für den Funktionsmechanismus des ganzen Reiches“. In der Bundesrepublik, wo der Staudte-Film zunächst nur in gekürzter Fassung gezeigt werden durfte, verläuft die Rezeption mittlerweile ähnlich. Zuletzt griff Michael Hannecke im Film „Das weiße Band“, der in einem deutschen Dorf vor dem Ersten Weltkrieg spielt, auf die Deutungsmuster zurück, die Heinrich Mann geprägt hatte.

Eigenschaften und Verhaltensweisen, die Heinrich Mann kritisierte, waren im wilhelminischen Deutschland tatsächlich nachweisbar, manche davon in größerem Umfang als vielleicht in anderen europäischen Staaten. Beispielhaft steht dafür die Affäre um den „Hauptmann von Köpenick“: Ein mittelloser Schuster hatte nur eine in Trödelläden zusammengekaufte Uniform benötigt, um sich die zivilen Instanzen zu unterwerfen.
Autoritätsgläubigkeit und Mangel an bürgerlichem Selbstbewußtsein beklagte zur gleichen Zeit auch der Philosoph Max Scheler. Das Ausland nahm seiner Ansicht nach die Deutschen nicht ganz zu Unrecht vor allem als Soldaten oder als professorale Besserwisser wahr. Dafür waren freilich schwerwiegende historische Gründe ursächlich (z.B. die im Vergleich erst späte Reichsgründung), die sich einer platten Zeitkritik à la „Untertan“ entziehen. Hinzu kommt die generelle deutsche Neigung, eher einem verbindlichen gemeinsamen Ideal anzuhängen statt kritischem Individualismus zu frönen, der eher in Distanz zum jeweiligen Zeitgeist steht.

Aus dem Abstand von 50 Jahren schilderte Heinrich Mann in seinen Memoiren ein Erlebnis, das ihm 1895 in Rom widerfahren war, wo er sich damals 24jährig mit seinem Bruder Thomas aufhielt. Ihnen begegnete ein „wahrhaft herrschaftlicher Typ“, der völlig frei von Neugier auf seine Umgebung zu sein schien. In der Haltung dieses Herrn drückte sich das Bewußtsein der eigenen, selbstverständlichen Überlegenheit aus, das es überflüssig machte, sich mit anderen zu vergleichen: „er ließ das andere – das andere sein.“ Es handelte sich natürlich um einen Engländer, der die britische Vorherrschaft in der Welt personifizierte.

Heinrich Mann, Autor des „Untertan“

Selbst im Rückblick vermochte Heinrich Mann es nicht, für die britische Arroganz und die offenbar als demütigend empfundene Nicht-Beachtung seiner Person eine ironische Distanz zu finden. Das spricht dafür, daß er den nationalen Minderwertigkeitskomplex, der Diederich Heßling treibt, selber empfunden hat. Er kompensierte ihn, indem er zu den Deutschen die Position des Außen- und Höherstehenden einnahm. Allerdings wählte er, der laut Mitteilung seines Neffen Golo „warme Liebe“ für die eigenen Landsleute nicht empfand, statt der britischen die französische Perspektive. Heinrich Mann wurde zum „volksfremden Romantiker im Grunde, der den Volksmann nur spielte, unerfreulichen Wahrheiten aus dem Weg ging und ein stark idealisiertes Frankreich im gläsernen Kunststil zur Nachahmung anbot“. (so sein Neffe, der Historiker Golo Mann)

In den Romanen der großen Franzosen Balzac, die Goncourts, Flaubert, Maupassant, Zola ist die Zeitkritik nicht weniger bissig als bei Heinrich Mann. Aber noch den bösartigsten Figuren gestehen die Autoren ein Gran Menschlichkeit zu, finden sie im Bösen ein fehlgegangenes Gutes, eine verschüttete Hoffnung, ein verfehltes Ideal. Die Kritik des „Untertan“-Verfassers am tatsächlich oder vermeintlich Bösen ist selber bösartig, verletzend und denunziatorisch. Gleich der erste Satz, der von der Angst des Kindes handelt, ist voller Häme. Der Roman über den Wilhelminismus gerät zum politischen Pamphlet.

Die Wirklichkeit, so wie sie der Roman darstellt, ist überzeichnet und einseitig: Alles öffentliche Leben ist auf den Militarismus ausgerichtet. Der Untertanengeist verformt die Individuen bis zur physischen Häßlichkeit. Der Gehorsamszwang erdrosselt die individuelle Freiheit. Demokratische Mitbestimmung ist ein Fremdwort. Die Justiz betätigt sich als verlängerter Arm junkerlicher Macht und entspricht einer politischen Klassen- und Gesinnungsjustiz. Die Lebensbedingungen der Arbeiter sind miserabel, ihre politisch-sozialen Rechte minimal, ihr Protest wird aus dem Gewehrlauf beantwortet.

Diederichs Großsprecherei ist die Kehrseite von Lebensfurcht. Das hätte den Anknüpfungspunkt für einen großen Roman über das Kaiserreich geboten. Heinrich Mann hätte ihm dann aber auch historisch-politische Gerechtigkeit zukommen und seinem lächerlichen Pomp eine tragische Note zubilligen müssen. Die lag unter anderem darin, daß die nach der Reichsgründung stürmisch einsetzende industrielle Revolution das deutsche Bürgertum überforderte. Es war nicht gewohnt, den neuen Reichtum in gediegene Formen zu gießen, was zu den zahlreichen ästhetischen Monstrositäten der Gründerzeit führte. Und auch das bürgerlich-revolutionäre Vokabular von 1848 konnte die neuen Realitäten nur noch bedingt erfassen. Friedrich Sieburg urteilte treffend: „In Wirklichkeit geißelt der Schriftsteller einen Typus, der sich überall dort bildet, wo eine wirtschaftliche Hochkonjunktur mit einem halbfertigen und gerade erst in die Freiheit entlassenen Menschenbild zusammenstößt. Der patriarchalische und alberne Chauvinismus, der in Manns Roman zum wilhelminischen Zeitalter gehört, ist zur Herstellung eines perfekten Untertanen nicht unbedingt nötig.“

Nicht nötig zwar, aber als Begleiterscheinung leicht zu erklären. Der deutsche Bürger hatte bis 1871 im Krähwinkel der deutschen Klein- und Mittelstaaten gelebt und dachte nicht so selbstverständlich in europäischen und globalen Dimensionen wie die Engländer und Franzosen. Nun sah er das Reich mitten in die Stürme der internationalen Großmachtpolitik gestellt. In den Stolz über den Aufstieg des Landes mischte sich die Furcht, der Herausforderung nicht gewachsen zu sein. Die Unsicherheit und Zerrissenheit fanden in Wilhelm II. ihren idealtypischen Repräsentanten. Im wehrhaften Militarismus, den Wilhelm II. selbst stets defensiv verstand, wurden sie vordergründig überwunden. Zugleich war er eine direkte Folge der deutschen Mittellage, die stets die Gefahr eines Zweifrontenkrieges in sich barg. Um die Nachbarn Frankreich und Rußland von Erpressungsversuchen abzuhalten, mußte Deutschland militärisch stark sein.

Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Massen waren – an heutigen Maßstäben gemessen – erbärmlich, doch in Deutschland verbesserten sie sich schneller und gründlicher als anderswo. Der Sozialstaat ist eine deutsche Erfindung. Bereits Bismarck hatte ein System aus Kranken-, Renten- und Unfallversicherung eingeführt, das in der Welt nicht seinesgleichen hatte. Der junge Wilhelm II. begriff schneller und gründlicher als andere Herrscher, daß die soziale Frage die Zukunftsfrage überhaupt war. Der Streit mit Bismarck, der schließlich zum Bruch zwischen Kaiser und Kanzler führte, entzündete sich an zwei kaiserlichen Erlassen zur Arbeiterschutzgesetzgebung, die den Maximalarbeitstag, die Sonn- und Feiertagsruhe, den Arbeitsschutz, das Verbot von Kinderarbeit und anderes einschloß. Das gab es in keinem anderen Land! Natürlich dachte der Kaiser zuerst in den Kategorien des seit 200 Jahren bestehenden preußischen Obrigkeitsstaates, aber er wollte auch arbeitsrechtliche Modernisierungen, und ein Quasi-Diktator, der die Entrechtung und Ausbeutung der arbeitenden Massen betrieb, war er keineswegs!

Auch die Szene, in der ein junkerlicher Regierungspräsident durch Gestik, Mimik und Räuspern den Ablauf einer Gerichtsverhandlung beeinflußt und die Verurteilung eines Fabrikanten mit liberaler Gesinnung durchsetzt, ist ein Zerrbild preußisch-deutscher Justiz. In Preußen hatte sich seit Friedrich II. ein Justizsystem etabliert, das auf seine Unabhängigkeit strikt achtete. Das Berliner Kammergericht wurde zum Inbegriff der Rechtsstaatlichkeit, die sich auch vor dem Königsthron behauptete. Natürlich waren die Richter nicht frei von äußeren Einflüssen und vom Zeitgeist genauso wenig, wie sie es heute sind , aber sie waren auch keine Befehlsempfänger und Büttel der Klassenjustiz. Dem Fürsten Eulenburg nutzten sein hoher Rang und selbst die Freundschaft des Kaisers gar nichts, als ihn der Journalist Maximilian Harden 1907 zu einem – inhaltlich zweifelhaften Sensationsprozeß (die sogenannte Eulenburg-Affäre) vor die Schranken des Gerichts zwang.

Der Fabrikant Lauer behauptet im Streit mit Heßling die „Verjudung“ des Hauses Hohenzollern. Staatsanwalt Jadassohn, der auf einem Verfahren wegen Majestätsbeleidigung besteht, ist selber Jude. Die gute Gesellschaft von Netzig steht zunächst auf Lauers Seite; das Vorgehen Jadasssohn betrachtet sie als übereifrig und bringt es mit seiner Herkunft und seinem Konvertiten-Eifer in Verbindung. Doch es ist noch eine ganz andere Deutung möglich, eine Deutung, die Heinrich Mann noch in seinem Zola-Essay, in dem er das Ideal einer im heutigen Sprachgebrauch – Zivilgesellschaft entwirft, gar nicht gesehen hat: Der assimilierte Jude sieht durch Lauer die Legitimität des preußisch-deutschen Staates angegriffen, der ihn, den Angehörigen einer zwar staatlich, aber noch nicht gesellschaftlich gleichberechtigten Minderheit, vor den Leidenschaften der modernen Massengesellschaft schützt. Das republikanische Frankreich ist keine Alternative. Zur selben Zeit lag dort die Entscheidung über Schuld und Unschuld des jüdischen Hauptmanns Dreyfus in der Hand der schwankenden öffentlichen Meinung und einer politisierten Justiz. Einen vergleichbaren antisemitischen Justizskandal wie die Dreyfus-Affäre hat es im deutschen Kaiserreich nicht gegeben. Verständlich also, daß Jadassohn auf den preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat und nicht auf den demokratischen „Umsturz“ vertraut, dessen Beginn er in Lauers Äußerung wittert.

Das Bürgertum im Roman ist durchweg beschränkt, bigott, nationalistisch oder, wie der altliberale Buck, der 1848 zum Tode verurteilt worden war, völlig einflußlos. Man fragt sich, wie dieses mediokere Personal den deutschen Siegeszug in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur zustande gebracht hat. In Wahrheit gehörten zum deutschen Bürgertum weltläufige und weitblickende Männer wie der Reeder Albert Ballin, ein Jude übrigens, der mit dem Kaiser befreundet war und sich 1918 aus Verzweiflung über das Ende der Monarchie selbst tötete. Es gab Walter Rathenau, dessen Person den Industriellen mit dem Intellektuellen vereinte. Rudolf Virchow war nicht nur ein Mediziner von Weltruf, sondern auch ein linksliberaler Politiker, der jahrzehntelang im Reichstag und im Preußischen Abgeordnetenhaus saß und Einfluß nahm auf die Gesundheitspolitik. Der überragende Denker Max Weber mischte sich – durchaus auch kaiserkritisch – in die politischen Debatten ein.

Überhaupt fehlt im Roman das deutsche Bildungsbürgertum, das Deutschland in den Naturwissenschaften, in Medizin und Technik weltweit in Führung brachte. Zwischen 1901 und 1912 wies Deutschland vier Literaturnobelpreisträger auf, mehr als jedes andere Land: Ein Indiz für den Respekt, den der deutsche Geist genoß. Mochte der Kaiser aus Ärger über Gerhart Hauptmanns Drama „Die Weber“ im Deutschen Theater ruhig die Kaiserloge kündigen und dem Dichter den Schillerpreis verweigern Hauptmanns Ruhm, Auflagen und Einnahmen wuchsen unaufhörlich. Und wenn Wilhelm über die „Rinnsteinkunst“ des Max Liebermann zeterte, dann schadete das in der öffentlichen Wahrnehmung nur einem: ihm selbst! Vermutlich war es um die Rechtssicherheit und um die Freiheit des Andersdenkenden in Deutschland nie besser bestellt als in der wilhelminischen Ära!

Der Typus des „Untertan“ ist weder spezifisch deutsch noch wilhelminisch. Der Schlüsselsatz zu seinem Verständnis findet sich zu Beginn des Buches: „Wie wohl man sich fühlte bei geteilter Verantwortlichkeit und einem Selbstbewußtsein, das kollektiv war.“ Der Untertan ist der Mitläufer, der in einer arbeitsteiligen, entzauberten Welt das „große Ganze“ nicht mehr überschaut, der seine Unsicherheit nicht erträgt und sie durch Hingabe an eine Autorität zu überwinden versucht. Die Vorzeichen dieser Autorität sind austauschbar. Man denke nur an die DDR der 50er Jahre (in der Staudtes Untertan-Film gedreht wurde) …

Friedrich Sieburg verglich Diederich Heßling mit dem „gesinnungstüchtigen Heuchler“ der Gegenwart – im Jahr 1958. Diederich, meinte Sieburg, würde 1958 seine Existenz nicht mehr durch einen adligen Regierungspräsidenten beeinträchtigen lassen, sondern bis zur Selbstaufgabe Europäer sein und vorbildlich an der deutsch-französischen Verständigung arbeiten.
Heute, im Deutschland des 21. Jahrhunderts freilich würde er sich im „Kampf gegen rechts“ engagieren und den faschistischen Kontaminierungen der deutschen Geschichte unerbittlich auf den Grund gehen. Und käme eine neue Diktatur er wäre mit verdoppeltem Furor dabei!

„Wieviel Beobachtungsschärfe und grandios bösartigen Einfallsreichtum, wieviel bestürzendes Vorauswissen das Buch auch vorweist – am Ende enthält es mehr pamphletistische als literarische Wahrheit und steht mit seiner verächtlich wegwerfenden Gebärde der eigenen Intention eher entgegen; bezeichnenderweise sollte es ursprünglich auch das Motto haben: 'Dies Volk ist hoffnungslos'.
In keiner Szene jedenfalls, in keiner seiner bald berechenbaren Reaktionen, gewinnt Diederich Heßling Züge, in denen die Leser ihr eigenes Untertanentum wiederkennen konnten. Als durch und durch konstruierte Figur, eine ins Konstruierte gesteigerte Sozialmarionette, förderte sie eher die Vorstellung, der Untertan sei immer nur der andere.“

— Joachim Fest: Die unwissenden Magier – über Heinrich und Thomas Mann. Berlin 1998, S. 92